Der Sinn der Ikonen   (P. Nikolai Wolper)

 

Die Orthodoxen sind nicht nur hörende, sondern auch und ganz besonders schauende Menschen. Deshalb lieben sie so sehr das Evangelium des Schauens und dementsprechend des Lichtes: das Johannesevangelium:

 

„(...) Aus Nazaret? Kann denn von dort etwas Gutes kommen? Philippus antwortete: Komm und sieh! Jesus sah Nathanael auf sich zukommen und sagte über ihn: Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit. Nathanael fragte ihn: Woher kennst du mich?. Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi , du bist der Sohn Gottes, der König von Israel! Jesus antwortete ihm: Du glaubst, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah? Du wirst noch Größeres sehen. Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. (Joh 1, 46-51)

 

Diese Schau der Herrlichkeit Gottes sind der Inhalt und die Erfahrung der Orthodoxie  im Gottesdienst und in der verehrenden  Betrachtung der Ikonen. Am Ende der Göttlichen Liturgie, der Eucharistiefeier, singt die Gemeinde:

„Wir haben das wahre Licht gesehen, wir haben den himmlischen Geist empfangen, den wahren Glauben gefunden, da wir anbeten die unteilbare Dreieinigkeit, denn sie hat uns erlöst.“

Und das Festlied am Sonntag der Orthodoxie jubelt:

Das unumschreibbare Wort des Vaters nahm Fleisch an aus dir, Gottesgebärerin, und ward umschrieben. Das verdunkelte Abbild hat es umgebildet ins Urbild und erfüllt mit göttlicher Schönheit. Wir bekennen das Heil im Wort und Werk und stellen im Bild es dar.“

„Orthodoxie“ heißt nicht nur „Rechtgläubigkeit“, sondern auch und primär „rechter Lobpreis Gottes, rechte Gottesverehrung“. So verweisen Ikone und Liturgie aufeinander und erhellen sich wechselseitig: Die Liturgie ist die dramatisierte Ikone und die Ikone gemalte Liturgie. Gemeinsam ist beiden Erscheinungsformen der göttlichen Herrlichkeit die erfahrbare Verschränkung von Zeit und Ewigkeit, die Verbindung von Erde und Himmel, von Schöpfung und Schöpfer, von Materie und Geist.

 

Orthodoxie ist die Erfahrung der Gegenwart des Heils.

 

Alle drei Begriffe in dieser „Definition“ sind wichtig:

Es geht nicht um Gedanken, Welterklärungen, Theorien, Sehnsucht nach einer besseren Welt, sondern um Erfahrung, die dem ganzen Menschen mit all seinen Sinnen, mit Seele und Geist widerfährt.

Erfahrung geschieht immer in der lebendigen Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Erwartung, sind natürlich im Bewusstsein auch „gegenwärtig“,  aber ohne das Gewicht des aktuellen Seins; sie „sind“ eben nicht mehr oder noch nicht. Nur bei Gott gibt es diese Differenz der Zeitmodi nicht, Er existiert in ewiger Gegenwart, und eben daran hat der gläubige Christ erfahrbaren Anteil.

Und es ist die Gegenwart des Heils, der realen, nicht nur ersehnten Ganzheit und Vollkommenheit und Reinheit, die dem Orthodoxen in der Kirche vermittelt wird, weil der Auferstandene und der Heilige Geist in den sichtbaren Zeichen präsent sind. Orthodoxe sind von der griechischen Kultur geschulte „Augenmenschen“, nicht nur das Wort Gottes Hörende, wie es für das Judentum und den vom ihm geprägten Protestantismus (und, anders, den Islam) charakteristisch ist.

 

In den Ikonen schauen uns Christus und die Heiligen an und eröffnen uns dadurch den Zugang zur Welt Gottes, sie sind „Fenster zur Ewigkeit“ in beiden Richtungen: Sie machen die Wirkung des Heiligen Geistes in menschlichen Gestalten sichtbar und sie verheißen als „wirk-liche“, wirkmächtige Zusage diese Heiligung jedem, der mit gläubigen Augen und Herzen sich mit diesen Bildern verbindet. Insofern verbirgt die Ikonostase nicht nur nichts, sondern sie macht überhaupt erst das Wesentliche, um das es im Christentum geht, sichtbar: die Heiligung der Welt durch die Auferstehung im Heiligen Geist. So wird der Altar als Heil bringendes Grab Christi überhaupt erst „sichtbar“ durch die vor ihm stehenden Bilder mit den Zeugen der Kirche, wie der Seher Johannes sie in der „Apokalypse“ geschaut hat (Apk  7) – obwohl die Gemeinde  das „Grabtuch“ Christi (Antimins: Tuch mit der Abbildung der Grablegung , das der Priester als Unterlage für die eucharistischen Gaben entfaltet) aus der „Ferne“ nicht erkennt.

 

„Danach sah ich: eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen in weißen Gewändern vor dem Thron und vor dem Lamm und trugen Palmzweige in den Händen.“ (Apk 7,9)

 

Der Märtyrerpriester  Pavel Florenski formuliert es drastisch: Ohne Ikonostase würde der Altar hinter einer „massiven Wand“ gerade verborgen – weil nämlich unser Auge im Bann rein irdischen „Sehens“ (im technisch-fotografischen Sinn) gefesselt würde. Christliche Existenz geschieht aber an der Grenze zwischen den Welten, und das ist nicht nur ein Gedanke, sondern erfahrbar.

 

Der Gläubige schaut nicht nur zur Bilderwand, sondern – dem symbolischen Kosmos der Kirchenarchitektur gemäß – auch hinauf zur Kuppel. Und dort sieht er die Darstellung der „Himmlischen Liturgie“: Engel zelebrieren in den Gewändern von Priestern und Diakonen unter den Augen des „Pantokrators“ (am Zenit der Kuppel) in einer Prozession zum gemalten Altar hin den eucharistischen Dienst – als immer währende  Verherrlichung und Lobpreisung Gottes. 

 

 

Lit.:  Pavel Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Russland; Stuttgart