Das Mandylion (16./29.8.)              (P. Nikolai Wolper)

 Das „Nicht von Menschenhand gemachte Bild (Acheiropoieton)“

Tropar (2. Ton):

 

Vor Deinem allreinen  Bilde

fallen wir nieder, o Gütiger,

und bitten um Vergebung

unserer Sünden, Christus Gott.

Denn im Fleisch wolltest Du freiwillig

auf das Kreuz Dich erheben,

um Deine Geschöpfe aus der Sklaverei

des Widersachers zu erlösen.

Deshalb rufen wir dankbar Dir zu:

„Das All hast Du mit Freude erfüllt,

Du unser Erlöser,

Der Du kamst die Welt zu erretten.“

 

Das christliche Verständnis des Menschen unterscheidet zwischen dem im Spiegel oder Foto abbildbaren „Gesicht“ und dem wesenhaften, hindurch scheinenden „Antlitz“ einer Person, ihrer Ausdrucks-Gestalt als Gottes Ebenbild – so wie Gott diesen bestimmten Menschen geschaffen und gemeint hat. Sichtbar gemacht wird dieses Antlitz in einer Ikone; deshalb verlangt sie einen historischen Rückbezug zu dem realen Menschen und unterbindet das „freie Künstlertum“ bei der Abbildung. Das gilt natürlich auch für das Ebenbild Gottes und Urbild des Menschen, Jesus Christus. (Kol 1,15)

Deshalb ist der Kirche die Grundlegung der Ikonenmalerei durch die seit dem 4. Jhdt. verbreitete Ursprungslegende stets wichtig gewesen. Auf sie nimmt auch das Weihe-Gebet für Christus-Ikonen Bezug: Abgar, der kranke König von Edessa, habe durch ein Tuch, auf das Christus Sein Antlitz geprägt habe und das die Gesandten dem König überbrachten, Heilung erfahren und darauf hin das erste Bildnis des Erlösers abmalen lassen. Jenes „nicht von Menschenhand gemachte Bild“ oder „Mandylion“ galt  seither als Zeugnis der wirklichen Inkarnation und der „nicht von Menschenhand gemachten“ Wahrheit in der Überlieferung der Kirche. Legenden sind ja keine erfundenen frommen Geschichten, sondern „Wort-Ikonen“, die die geistige Gestalt eines Heiligen oder eines Ereignisses erzählend darstellen, und insofern kommt auch dieser Ursprungslegende eine tiefe Wahrheit zu – unabhängig von der historischen „Richtigkeit“ im Detail.

 

Kaum jemand unter den „Aufgeklärten“ hat dieser Legende außer der psychologischen und symbolischen Wahrheit noch einen historischen Kern zugetraut – und doch mehren sich die Zeichen für die Authentizität der traditionellen Christus-Ikonen, und die Spuren führen tatsächlich über Edessa zurück bis nach Jerusalem – aber, anders als erwartet, zum Grab des Herrn und zu mindestens zwei Reliquien, deren Echtheit immer wahrscheinlicher wird, je genauer die Recherchen werden.

Dass das Mandylion die Gesichtszüge des Grabtuches von Turin (Sindone) wiedergeben könnte, wurde schon lange vermutet, wenn auch störend wirkte, dass es die Körperspuren eines Toten, mit geschlossenen Augen, enthält. Die zwischenzeitliche Irritation angeblicher Datierungs-Ergebnisse mithilfe der Radiocarbon-Methode, die das Tuch als Produkt mittelalterlicher Fälschungen entlarven sollten, sind inzwischen korrigiert worden, so dass die Herkunft aus dem Hl. Land zur Zeit Jesu plausibel erscheint. Genaueste gerichtsmedizinische Untersuchungen fanden alle biblischen Berichte über die Folterungen Jesu im Einklang mit den Spuren auf dem Tuch. Seit der sensationellen Entdeckung 1898, dass die Gesichtszüge erst auf dem Fotonegativ wirklich deutlich („positiv“) erkennbar werden (der Abdruck also selbst ein Negativ ist), wurde immer wieder gerätselt, wie Ikonenmaler so lebendige Gesichter nach den fahlen Leichenspuren auf dem geheimnisvollen Tuch haben gestalten können – bis vor wenigen Jahren durch die unermüdlichen Recherchen des WELT-Korrespondenten Paul Badde ein noch viel geheimnisvolleres „Textil“, das seit vierhundert Jahren in dem abgelegenen Abbruzzen-Dorf Manoppello als „Heiliges Gesicht“ („Volto santo“) verehrt wird, in den Blickpunkt einer erstaunten Öffentlichkeit rückte. 

Es handelt sich um einen völlig durchsichtigen nahezu farblosen Schleier von solcher Leichtigkeit (feiner als Nylon), dass er in eine Walnussschale passen würde. Als Material wurde die heute fast unbekannte, in der Antike unerschwinglich kostbare Muschelseide aus den Byssos-Fäden einer Meeresmuschel identifiziert. Es ist mit keinem bekannten Farbstoff zu bemalen. Das Rätsel besteht darin, dass das Tuch von Manoppello ein Gesichtsbild von unergründlicher Lebendigkeit enthält, aber eben keinerlei Pigment-Spuren - vergleichbar den Farben der Schmetterlingsflügel, die durch  rein physikalische Effekte zustande kommen. Je nach Beleuchtung erscheinen die Einzelheiten des Gesichts und die Farben verschieden; im Gegenlicht verschwindet das Bild in der nur noch weiß schimmernden Fläche. 

Durch sehr detaillierte Nachmessungen der Proportionen  wurden entgegen dem ersten Augenschein weitest gehende Übereinstimmungen sowohl zwischen den Gesichtern des Turiner Tuches (Sindone) und des Schleiers von Manoppello (Sudarion) als auch  mit den typischen Ikonen festgestellt. Das Fazit aller dieser Studien lautet nach der Überzeugung von Paul Badde: Grabtuch und Schleier sind die beiden Tücher, von denen das Johannes-Evangelium berichtet (Joh 20,6f.), und damit die Reliquien des Foltertodes und der Auferstehung Christi. (Der Schleier enthält keine Blutspuren und lag wohl über dem mit Aloe und Myrrhe getränkten Grabtuch, so dass das Gesicht auf völlig unerklärliche Weise, aber, anders als die Spuren des Grabtuches, positiv erscheint – „das Werk des Hl. Geistes“; Badde) Sie wären dann die beiden komplementären Urbilder der Christus-Ikonen, nach denen alle späteren Christus-Ikonen geschrieben wurden. (Typisch für das Mandylion ist das Fehlen von Hals und Schultern.) Die Schweißtuch-Legenden sind demnach zwar in den erzählerischen Details nicht wörtlich zu nehmen; die Grundaussage, dass sie die authentischen Gesichtszüge Christi darstellen, wäre aber ihr historischer Kern.

Gläubige, liebende Augen erkennen in den Ikonen das wahre Antlitz der göttlichen Liebe nicht nur im übertragenen Sinn, sondern historisch-konkret wieder.

 

Zu den Mandylion-Festen (außer dem 16./29.8. noch am 9./22.8.  – Christus erscheint im 3. Jhdt. einer Frau, die sich heimlich nach der Taufe sehnt, wäscht Sein Antlitz in einem Wasserbecken und drückt es beim Abtrocknen auf einem Tuch ab - und am 11./24.8.) gehört das Tropar, das auch am Sonntag der Orthodoxie in der Großen Fastenzeit seit dem endgültigen Sieg der Ikonenverehrung (Konzil von Nizäa 787; Kaiserin Theodora 843) gesungen und stets von den Klerikern nach dem Betreten der Kirche vor der Ikonostase gebetet wird.

 

Die Beobachtung, dass wir in unserer Kirche das Mandylion über der Südtür, also im der Leidenswoche des Herrn gewidmeten Schiff, und sehr häufig am obersten Balken des Kreuzes finden, fügt sich auch zur  Legende vom „Schweißtuch der Veronika“, die im Westen seit dem Mittelalter sehr populär war. Dessen Reliquie soll gerade zu der Zeit (8. Jhdt.) im Vatikan aufgetaucht sein, als das Sudarium in Konstantinopel (wohin es im 6.Jhdt. gelangt war) verschwand. (Das Sindone wurde dort 1204 von Kreuzrittern geraubt und befindet sich heute in Turin.) Veronika soll dem Herrn auf Seinem Weg nach Golgatha das Schweißtuch gereicht und mit dem Abdruck Seines Antlitzes zurück erhalten haben.

 

Literatur:

 

Das Synaxarion, Bd. II; Chania (Kreta) 2006

Paul Badde: Das göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu;

                     München 2006

Pavel Florenskij: Die Ikonostase:; in: Ders.: Christentum und Kultur (Werke II/2);

                     Berlin 2004; bes. S. 123-132

Maria Grazia Silato: Und das Grabtuch ist doch echt. Die neuen Beweise; Augsburg 1998