Vater Ambrosius über die wechselseitige Erhellung von Verstand und Gebet

Schon in dem frühen Vortrag über „Norm und Gewissen“ (Ansverushaus, 2.3.1968) hat V. Ambrosius dieses wegen der Menschwerdung Gottes durch und durch christliche Motiv, das sein Leben und Denken prägte, eindringlich angesprochen. Er bezieht sich auf eines der Grundgebete der Kirche in den „Kleinen Stunden“ (zur „ersten Stunde“ nach der Nachtwache am Vorabend; zur „dritten“ und „sechsten Stunde“ vor der Göttlichen Liturgie; zur „neunten Stunde“ vor der Vesper; zur „Komplet“ vor dem Schlafengehen):

„Der Du zu aller Zeit und zu jeder Stunde im Himmel und auf Erden angebetet und verherrlicht wirst, Christus, unser Gott:
Du Langmütiger, Du Barmherziger, Du Huldvoller, Der Du die Gerechten liebst und Dich der Sünder erbarmst; der Du alle zum Heil rufst durch die Verheißung der künftigen Güter: Du selbst, Herr, nimm auch unsere Gebete entgegen, die wir in dieser Stunde Dir darbringen, und richte unser Leben ein nach Deinen Geboten.
Heilige unsere Seelen, reinige unsere Leiber, ordne unsere Gedanken, läutere unser Sinnen und bewahre uns vor aller Trübsal, vor Leid und Not.
Umgib uns mit Deinen heiligen Engeln, damit wir, durch ihre Schar bewacht und geführt, zur Einigung im Glauben und zur Erkenntnis Deiner unnahbaren Herrlichkeit gelangen, denn gepriesen bist Du in alle Ewigkeit. Amen.“

Vater Ambrosius kommentiert (S.3f.):

„In den Gebeten der orthodoxen Kirchen wie auch in denen der westlichen Kirchen finden wir immer wieder neu die Bitte, dass der Herr unser Herz und unseren Verstand öffne, damit wir geleitet durch Seine Offenbarung in der Wirklichkeit der Welt, die uns umgibt, die Strukturen erkennen, durch die und auf die hin der Herr Jesus Christus diese Welt geschaffen hat. Das Gebet, das sich in den Tageszeiten immer wiederholt, beschreibt den Vorgang, in dem Gott, der Herr, uns würdigt, die Wahrheit der Welt zu schauen, in differenzierten Einzelschritten. Das Gebet fasst den ganzen Menschen in den Blick: „Lenke unser Leben zu deinen Geboten“ – unser ganzes Leben, das Leben der Sonntage und der Alltage, unser Schlafen und unser Wachen, alles möge von Gott, dem Herrn, auf die Gebote hin gelenkt werden, dass wir die Gebote als die Offenbarung über die Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, erkennen und gleichzeitig darin den Weg zur wahren Seligkeit, zu dem Genuss der Fülle und der Herrlichkeit, die uns Gott in Seiner Welt schenken will, finden. Es heißt weiter: „Heilige unsere Seelen, reinige unsere Leiber.“ Auf unterschiedliche Weise wird von den zwei verschiedenen Wesenszügen unseres Menschseins gesprochen. Für die Seele bitten wir um die Heiligung, für den Leib aber um die Reinheit, von der Altes und Neues Testament immer wieder sprechen. Erst dann, wenn wir nicht irregeleitet werden durch die Unreinheit unseres Leibes und die Verdunkelung unser Seele, vermögen wir das zu erkennen, was Gott uns offenbaren will. Ähnlich hören wir in den Seligpreisungen: „Selig sind die reinen (genauer: gereinigten) Herzens, denn sie werden Gott schauen.“ Die eigentliche Voraussetzung offenbar die Struktur dieser Welt zu erkennen, ist die Reinheit unseres Herzens, die wir nicht anders gewinnen als durch Gott, unseren Herrn, Der uns von unseren Sünden frei macht, damit wir mit den klaren Augen unseres Verstandes erkennen, was ER uns zeigt.
„Mache recht unser Denken und rein unsere Gedanken!“ - Das Gebet unterscheidet zwischen dem Vorgang des Denkens und dem, was in unserem Denken Gestalt gewonnen hat. Erst wenn jede einzelne Ausdrucksweise unseres Verstandes, unseres Gefühls, unserer Vorstellungskraft von Gott durchdrungen und geheiligt ist, wird uns offenbar, wie herrlich die Welt ist, in der die Gebote uns zu einer Leitschnur des Lebens, nicht aber zur Begrenzung unserer Lebensmöglichkeiten werden.
Wir bitten: „Erlöse uns von allem Leid, Bösem und Schmerz“, aber all diese Bitten kommen erst zu ihrer Fülle, wenn wir umgeben von den heiligen Engeln in der weiten Gemeinschaft der Schöpfung und der Kirche die Erkenntnis der Wirklichkeit finden. Die Fülle, die sich in den Geboten Gottes zeigt, wird uns nur zugänglich in der Gemeinschaft der Brüder, in der Gemeinschaft der Kirche, in der Gemeinschaft der Liebe, in der Gemeinschaft, die auch das Unsichtbare – die heiligen Engel – mit umschließt. Durch die Schar der Engel behütet und geleitet möge uns der Herr zur Einigung im Glauben und zur Erkenntnis Seiner unnahbaren Herrlichkeit führen.“

Die lebendige Verbindung von Gebet und Verstand im persönlichen Leben mit Gott im Alltag hat Vater Ambrosius mit verschiedenen Akzenten besprochen in neueren Vorträgen, von denen zwei im Kapitel „Vater Ambrosius“ zu finden sind. (In „Gebet – Denken“ von 1997 geht es um die grundsätzliche, das Leben durchdringende Haltung des Gebets, in „Verstand und Gebet“ von 1995 besonders um die Gebets-Gemeinschaft – die Vorbereitung auf die Teilnahme am Hl. Abendmahl und die Fürbitte für die Toten.)