(P. Nikolai Wolper)


Zur Geschichte der russischen orthodoxen Gemeinde in Hamburg

Enge Beziehungen zwischen den deutschen und russischen Völkern bestanden seit dem 18. Jhdt. über die Heiratspolitik der Adelsfamilien beider Länder. Auch alle Zarinnen – mit einer dänischen Ausnahme – stammten aus Deutschland. Die zahlreichen prachtvollen, vom neobarocken Stil der Zeit geprägten russisch-orthodoxen Kirchen in den Kurorten Baden Baden, Bad Ems, Wiesbaden; u..a. wurden in der Epoche der Badereisen im 19. Jhdt. gebaut, unterstützt von den Stadtverwaltungen, die von den zahlungskräftigen adligen Gästen gern profitierten. Erst heute sind sie wirkliche Pfarrkirchen und Gemeindezentren für die zahlreichen Einwanderer aus Russland geworden.

Der Anfang: Die Nikolaus-Kapelle

Die Freie und Hansestadt Hamburg war nie Kurort, aber eine Handelsmetropole und deshalb Sitz zahlreicher Konsulate. Die russischen Geschäftsleute ließen am 2. Januar 1902 in der obersten Etage eines Wohnhauses in Harvestehude (Böhmersweg 4) eine Kapelle zu Ehren des hl. Nikolaus von Myra weihen, wozu der Propst an der Kaiserlichen Botschaftskirche in Berlin, Alexeij von Maltzew, der durch seine umfänglichen Übersetzungen liturgischer Texte ins Deutsche bis heute Maßstäbe gesetzt hat, anreiste. (Die zehn Bände seiner zweisprachigen Ausgaben sind soeben fotomechanisch nachgedruckt worden.) Äußerlich war diese Kapelle unscheinbar, kenntlich nur an der Ikone des Patronats-Heiligen oben zwischen den Fenstern des Hauses. Innen verbreitete sie mit dem Glanz ihrer alten Ikonen und der ungewöhnlichen dynamisch-asymmetrischen Barock-Ikonostase mit Heiligenbildern im eher westlichen Stil des 18. Jhdts. (aber nach orthodoxem Bildprogramm) die gemütliche Atmosphäre einer kleinen Hauskapelle. Sie war für die damals wenigen Orthodoxen verschiedener Nationalitäten (Griechen, Bulgaren, Serben; u.a.) offen und existierte bis ca.1990 (fast nur noch genutzt für die Gottesdienste an den beiden Feiertagen des hl. Nikolaus, 6.12. und 9.5.), als sie wegen des Hausverkaufs leider sang- und klanglos aufgegeben wurde. Es erinnern nicht einmal mehr aussagekräftige Fotos an diese lange Epoche der russischen Orthodoxie in Hamburg. Geprägt war die Zeit dieser extremen Diaspora vor dem Zweiten Weltkrieg vom gastfreundlichen Integrationswillen der wenigen Russen – außer Geschäftsleuten auch Emigranten, die vor der sowjetischen Gewaltherrschaft flüchteten -, die den kulturellen Austausch mit den Einheimischen pflegten und dabei auch unaufdringlich den Kontakt mit der fremden Welt der Orthodoxie ermöglichten.

Zwischenspiel und neuer Impuls: Baracken-Kirchen und 1. Prokop-Kirche

Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Zahl der Flüchtlinge so groß, dass viele „Baracken-Kirchen“ errichtet werden mussten – z.B. im damals noch nicht als Park dienenden Planten un Blomen, in Fischbeck, Neugraben u.a.. Der Hochkommissar der englischen Besatzungsmacht schenkte dem hier ansässigen Bischof Afanassij ein Trümmergrundstück nahe dem Mittelweg, das der Not gehorchend erst als Kartoffelacker genutzt wurde, bis wunderbarerweise dort eine wertvolle Bronze-Platte ausgegraben wurde, die den Bau einer Kirche ermöglichte. Geweiht wurde sie auf Initiative des Priesters V. Stephan Lyashevsky, der junge Deutsche um sich versammelte um ihnen begeistert von der Schönheit des orthodoxen Glaubens zu erzählen, dem seligen Gottesnarren Prokop von Lübeck und Ustjug, dem Vater Stephan auch schon die für den russisch-orthodoxen Ritus umgestaltete Kapelle hinter der Katharinenkirche in Lübeck gewidmet hatte.

Dem Engagement eines anderen Russen, Fjodor Gerassimez, ist es zu verdanken, dass in den Gottesdiensten seit 1947 auch die deutsche Sprache Eingang fand, um die Orthodoxie aus dem exotischen Ghetto zu befreien und Russen wie Deutschen gegenüber die Universalität der Orthodoxie, die nicht nur Ausdruck bestimmter Nationalkulturen ist, zu bezeugen. Dieses Anliegen wurde wesentlich gefördert durch den 1950 zum Priester geweihten jungen Arzt V. Ambrosius Backhaus (gest. 2005 als Mitra tragender Erzpriester und weithin hoch geschätzter orthodoxer Vortragsredner im ökumenischen Dialog, der sich seit den 50er Jahren entwickelte.) Er hielt 55 Jahre lang einmal monatlich die Sonntags-Gottesdienste in überwiegend deutscher Sprache. Der deutsche „Kammerchor der russisch-orthodoxen Kirche“, wie er sich nach dem Tod von F .Gerassimez nennt, wirkt noch heute unter der Leitung der Tochter, Irina Gerassimez, an diesen Gottesdiensten und an den höchsten Feiertagen mit und wirbt durch Konzerte für die russische Kirchenmusik in Norddeutschland.

Das Zeichen in der Stadt: die 2. Prokop-Kirche

Als das Grundstück am Mittelweg für den Bau einer Schule genutzt werden sollte, erhielt die Gemeinde zum Ausgleich von der Stadt das jetzige Grundstück an der Hagenbeckstraße, und die großzügige Spendenbereitschaft vieler Hamburger ermöglichte den Bau einer neuen Kirche im rein russischen Stil, nach den überlieferten Regeln konzipiert als symbolischer Kosmos mit dem Pantokrator als Schlussstein der Kuppel, in der die Engel dem Dreieinen Gott die Himmlische Liturgie darbringen, und mit dem ganzen Bildprogramm der Heilsgeschichte des Mensch gewordenen Gottes und der vornehmlich russischen Heiligen, die den Kirchenbesuchern, die noch auf dem Wege zur Vollendung sind, die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen vor Augen führen. Hier wirkten S.E. Erzbischof Philotheus von Berlin und Deutschland, der Leiter der Diözese von 1971 bis 1982, die Architekten Nürnberg und Serow und der Ikonenmaler v. Meyendorff, der die Fresken und die Ikonostase im herben, serbisch geprägten Stil gestaltet hat, zusammen. Geweiht wurde die Kirche 1964 , wiederum unter dem Patronat des sel. Prokop, unter großer Anteilnahme der vielen Spender und Freunde der Gemeinde. Seither wird diese Kirche als repräsentatives Zeichen der Orthodoxie in der Hamburger Öffentlichkeit wahrgenommen, obwohl in den 60er Jahren sich hier auch andere orthodoxe Gemeinden etablierten, vor allem durch den Zustrom vieler „Gastarbeiter“ aus Griechenland und Jugoslawien. Als Bischofssitz war die Kirche des sel. Prokop eine Kathedrale, bis der Nachfolger in der Diözesan-Leitung, S.E. Erzbischof Mark, seinen Sitz nach München verlegte. Der wegen Krankheit in den Ruhestand getretene Erzbischof Philotheus war kurz vorher vom Bundespräsidenten für sein großherziges Engagement in der ökumenischen Verständigung mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden. Seit der nötig gewordenen aufwändigen Renovierung der Fresken und Kuppeln 1994 steht die längst zur offiziellen Sehenswürdigkeit in Hamburg avancierte Kirche unter Denkmals-Schutz.

Verantwortung in der Diaspora: Deutsche und Russen

Der ab 1978 für fast zwanzig Jahre eingesetzte Pfarrer, der ebenfalls nach seiner Konversion zur Orthodoxie zum Priester geweihte V. Benedikt Lohmann, hat die Gemeinde in einer besonderen Phase ihrer Geschichte durch seine breite theologische Bildung und unermüdliche Liebe zu den Gottesdiensten geprägt. (Er sprach manchmal scherzhaft vom „Kathedral-Kloster“ in Hamburg.) Besonders die deutschen Konvertiten sind ihm für die fundierte Einführung in die Tiefe und den Reichtum der liturgischen Texte überaus dankbar. Da die meisten Nachkriegs-Emigranten in andere Länder – vornehmlich die USA – weiter gezogen waren und die gebliebenen ihre Nachkommen nicht für die Kirche begeistern konnten, schrumpfte die Gemeinde mit dem Sterben vieler Glieder kontinuierlich, so dass die Konvertiten und die Gläubigen anderer Nationalitäten, die ihre Heimat in dieser Kirche gefunden hatten, das Erscheinungsbild und die Gottesdienstgestaltung bestimmten. Auch in die Verwaltungsämter rückten immer mehr Deutsche ein. Den Beginn der neuen Ära durch die dritte Immigrationswelle seit 1990 hat V. Benedikt noch wahrgenommen (er starb unerwartet 1995), ohne aber die nunmehr ganz von den aus Russland mitgebrachten Frömmigkeits-Formen und dem tendenziellen Zurückweichen der deutschen Sprache im Gottesdienst (trotz der vielen Kinder und Jugendlichen, denen das Kirchenslavische fremder ist als das Deutsche) geprägte Atmosphäre zu erleben. Es bleibt die große Aufgabe, im Bewusstsein der „Verantwortung in der Diaspora“ (V. Georg Seide) – der nächsten Generation und der nicht-orthodoxen Umgebung gegenüber - die Integrations-Impulse, die diese beiden Geistlichen hier in der russisch-deutsch geprägten Tradition vermittelt haben, fruchtbar zu machen. Der alle Glieder über sprachliche und kulturelle Differenzen hinweg verbindende Vorsteher der Gemeinde ist seit 1995 Erzpriester V. Josef Wowniuk.