Das Zeugnis eines Liebenden (1 Kor 13, 4f.)
(P. Nikolai Wolper)





In memoriam

Vater Ambrosius

(Dr. med. A. Backhaus),

Mitra tragender Erzpriester in Lübeck und Hamburg

23.8.1923 – 3.4.2005

image1

Den meisten von uns wird das Bild der letzten Jahre in Erinnerung bleiben: immer mühsamer, schließlich an Krücken, aber in ungebrochener Verkündigungs-Freude den Gottesdienst vollziehend, vor neun Monaten nach den Knie-Operationen wie neugeboren seinen vielfältigen Tätigkeiten nachgehend und wie eh und je technik-begeistert mit den stets aktuellsten Aufnahmegeräten hantierend und noch am Vorabend seines Todes – besorgte Nachfragen beschwichtigte er wie immer, wenn es um seine Person ging – in großer Schwäche nach dem Beichte-Hören zelebrierend: sitzend, die Ektenien fast hauchend , bis er nach dem Hexapsalm die Kirche verlassen musste – viele ahnten mit Tränen in den Augen, dass es sein letzter Gottesdienst auf Erden gewesen war.

Manchen bewegte nach der Todes-Nachricht der Gedanke, dass fast genau zehn Jahre zuvor, am 9.4.1995, als Vater Benedikt ebenfalls am Sonntagmorgen gestorben war, uns Vater Ambrosius mit Blick auf die Kuppelmalerei getröstet hatte in der Zuversicht, dass er nun die Göttliche Liturgie im Himmel feiern dürfe und dies ein Grund zur Freude und Dankbarkeit sei.

Als Vermächtnis hinterließ Vater Ambrosius die schon formulierten Ostergrüße, die wie die Ansprache zu seiner eigenen Beerdigung klangen: „...Ich muss abnehmen, DU, Christe, wirst wachsen. CHRIST IST ERSTANDEN! KEIN TOTER MEHR IM GRABE!...

Die freudige Erwartung, im Tod Christus zu begegnen, war das bestimmende Thema , je älter er wurde. Unvergesslich sind seine begeisternden Worte am Sarg seiner Matuschka Kira vor fünf Jahren. Hier bezeugte er, dass es ihm ernst war mit der Verkündigung der Auferstehung – nicht nur, wenn er andere trösten wollte, sondern gerade auch, wenn er selbst ganz persönlich betroffen war.

Seine geistige Gestalt

Dazu gehörte die schlichte, einfache, ansteckende Herzensfrömmigkeit, mit der er die Zuhörer begeistern und wärmen konnte, ebenso wie die große in der „Freiheit eines Christenmenschen“ (Luther) gegründete Weite, mit der er den verschiedensten Menschen über die Religions- und Konfessionsgrenzen hinweg ohne Berührungsängste begegnete, z.B. als Schiffsarzt auf den Weltmeeren wie in der amtsärztlichen Randgruppen-Betreuung vertraut mit der Kehrseite der Seefahrt. (Welcher Priester kann schon von sich behaupten, zeitweilig in sämtlichen Bordellen Hamburgs bekannt gewesen zu sein?!) Seine Doktorarbeit 1968 galt „sozialhygienischen Erhebungen zur Problematik der Freizeit der Seeleute“. Menschen nicht be- oder gar verurteilen, sondern verstehen – gerade auch in ihrer Unvollkommenheit – war seine Vertrauen weckende Devise.

(Seine durchaus eigenwillige Großzügigkeit bei der Gottesdienstgestaltung erforderte von den Altardienern Geistesgegenwart und Reaktionsschnelligkeit; der „ambrosianische Ritus“ - eine Anspielung auf liturgische Privilegien, die die römische Kirche traditionell der Mailänder Diözese gewährte – war unter den kundigen Betroffenen augenzwinkernd-.gefürchtet.)

Diese Weltläufigkeit war Vater Ambrosius wohl schon in die Wiege gelegt worden, wuchs er doch in einem liberal-bildungsbürgerlichen Elternhaus auf, kultiviert, allerdings ohne gelebte Religiosität. Gern berichtete er von seiner Mutter, die in Rom Kunstgeschichte studiert hatte; aber auch von seinem Großvater, der in Bremen Pastor gewesen war und sich allwöchentlich mit dem katholischen Kollegen und dem Rabbiner zum freundschaftlichen Weinabend getroffen hatte.

Die Gegenwelt von Tod und Verzweiflung lernte er lebensprägend ab 1942 als Soldat und 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft kennen.

„Das Evangelium und auch das Alte Testament erschienen mir als Kind, als Jugendlicher im Krieg und in Gefangenschaft und bis heute als die vernünftigste Gebrauchsanweisung zum Leben und die realistischste Darstellung der Welt. Die sich streitenden Jünger sind sehr viel wirklichkeitsnäher als die ergreifende Szene des Todes des Sokrates, wie sie Platon beschreibt.“

Obwohl beruflich sehr erfolgreich (immerhin hat er es - beginnend mit dem Staatsexamen 1952 – bis zum Medizinaldirektor im Hafen- und Flughafenärztlichen Dienst und zum Betriebsarzt bei Hapag-Lloyd gebracht), blieb er stets seinem bescheidenen Lebensstil in der Einzimmerwohnung treu, was seiner Genießerfreude beim Essen, Trinken und Feiern aber keinerlei Abbruch tat. (Aber freitags versagte er sich die geliebte Pfeife und erläuterte darob verwunderten Mitarbeitern den Sinn jeglicher Askese: ein Zeichen zu setzen, dass letztlich Christus alles im Leben ist, ohne die Welt und ihre Freuden verachten zu müssen.)

Sein Lebens-Motiv

Will man die vielen Facetten seiner Erscheinung zu einem Motiv zusammenführen, so drängt sich als das Thema seines Lebens und seiner leidenschaftlichen Verkündigung das des Liebenden in farbiger Fülle auf. Den Schlüssel dazu stellt die in so vielen Vorträgen und spontanen Statements – wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über – beschworene Bedeutung der Ehe – als Lebensbund und als Metapher - bereit. (Der theologische Aspekt der Einheit Christi und der Kirche als Urbild der sakramentalen Ehe war als Hintergrund gegenwärtig; vordergründig knüpfte Vater Ambrosius jedoch eher psychologisch an die Alltagserfahrung von Liebenden – oder doch wenigstens deren Ideal – an.) Besonders deutlich wird dieser Zugang in dem Bereich, in dem Vater Ambrosius sich jahrzehntelang im Bewusstsein der orthodoxen „Verantwortung in der Diaspora“ (G. Seide) profilierte und sich dabei auch manchem Befremden und Unverständnis aussetzte: seinem Engagement in der Ökumene.

Zwei Jahre habe er versucht seine „Frau zu finden“ - und damit meinte er nicht nur seine Ehepartnerin Matuschka Kira, die er im Philosophie- und Sinologie-Studium kennen gelernt hatte und mit der er bis zu ihrem Tod 2000 über fünfzig Jahre verheiratet gewesen ist; sondern auch seine Suche nach der religiösen Heimat 1948 – 1950. Habe er in der evangelischen Kirche die Gemeinschaft mit den Engeln und den Entschlafenen vermisst, und sei die römische Kirche ihm „zu klug“ (zu ausgefeilt systematisch-rational) erschienen, so sei ihm in der Orthodoxie schließlich die „Theologie als heilige Hoffnung“, für die nur das gelebte Glaubensbekenntnis verbindlich sei, begegnet.

„Diese Kirche passte in besonderer Weise zu mir. Sie war von der Fülle des Mithandelns des Menschen erfüllt. Gott lädt uns ein, vor allen Dingen im Gottesdienst, aber auch im Alltag, mithandelnd mit ihm an seinem Werk teilzuhaben und durch diese Teilhabe gleichzeitig mit ihm vereinigt zu werden.“

Bischof Afanasij (damals für Hamburg zuständig, neben sieben weiteren Bischöfen, die unter Metropolit Anastasij Zigtausende russischer Emigranten in Deutschland betreuten, bis zu deren Weiterreise in die USA) weihte ihn am seltenen Doppelfest des Karfreitags und Mariä Verkündigung am 7.4.1950 zum Priester.

„Ich war auf diese Frage des Bischofs nicht vorbereitet, und es ist in gewisser Hinsicht bezeichnend für die einzelnen Etappen meines Lebens, dass sie durch eine solche Anrede bestimmt wurden, niemals – soweit ich das übersehen kann – durch irgendwelche Pläne oder Gedanken, die ich selbst gefasst hätte.“

Eines seiner Anliegen war die Etablierung der monatlichen deutschsprachigen Gottesdienste, zunächst für die des Russischen kaum mehr mächtigen Nachkommen der ersten Emigranten-Generation, später auch für die angeheirateten Konvertiten, wovon die Familien Diklic und Gerassimez noch heute dankbar berichten. Zusammen mit Matuschka Kira, seiner sprach- und sachkundigen Mitarbeiterin, u.a. als Gottesdienst-Leserin, hat er dem Chor die Übersetzungen der slawischen Texte geschenkt.

Seine Weisheits-Regeln

für den besonnenen Umgang mit Menschen (nicht nur in der Ökumene) hat Vater Ambrosius aus der Ehe-Erfahrung abgeleitet und unbeirrt vertreten (nicht systematisch, aber als Grundmelodie seiner zahlreichen Vorträge, die teils als Cassetten, teils als Transkripte existieren):

1. „Im Glauben wie in der Liebe gibt es keine Relativität.“
So wie die Freude des „nicht-exklusiven Superlativs“ keine Minderung durch den Vergleich mit anderen Ehepartnern dulde, ohne ihnen doch das Recht auf ihre jeweils gleiche Erfahrung zu bestreiten, so sei auch das ungebrochene Bekenntnis zum eigenen Glauben geboten, ohne die anderen Konfessionen herabzuwürdigen. Leidenschaftliche Liebe bedürfe keiner Verurteilung anderer. (Als Vorbeugung und Heilmittel gegen die Vergötzung der eigenen Erfahrungen und wertgeschätzten Besonderheiten empfahl Vater Ambrosius stets das Ephräm-Gebet aus der Großen Fastenzeit. ) Als seine Neigung zur kirchlich umstrittenen Lehre der gnädigen Allversöhnung am Ende der Zeiten von einem Hörer mit der Frage nach dem Schicksal von Tätern wie Hitler auf die Probe gestellt wurde, erklärte er sie als „uninteressant“ für unser Leben, weil unsere Aufgabe allein das Gebet und das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit sei; offen blieb allerdings der Stellenwert der Opferperspektive...)

2. „Wenn es dir wichtig ist, soll es auch mir wichtig sein.“
Wie ein Liebender seiner Frau z.B. den häufigen Besuch beim Friseur auch dann ermögliche, wenn ihm selbst die Wichtigkeit nicht einleuchte, so sei im Umgang z.B. mit Andersgläubigen nicht der Streit angemessen, sondern das geduldige Gespräch und das glaubwürdige Bekenntnis mit dem eigenen Leben. (Jene haben – nicht erst nach seinem Tod – das überzeugende Beispiel von Vater Ambrosius stets respektiert.) Nach einem Vortrag im Rahmen des „Interreligiösen Dialogs“ an der Hamburger Universität zum Semester-Thema „Sterben und Tod in den Weltreligionen“ antwortete Vater Ambrosius auf die faszinierte Bemerkung eines Studenten, über ein so begeistert-leidenschaftliches Bekenntnis zur Auferstehung könne man doch nicht diskutieren, eben das sei auch überhaupt nicht seine Absicht gewesen... Die Originalität und Ausstrahlungskraft seiner Vorträge wurde von den Dialogpartnern stets sehr geschätzt.

3. „Die Botschaft Christi ist radikal und steht quer zu aller Ausgewogenheit menschlicher Erklärungen“,
die – etwa im ökumenischen Dialog – niemandem auf die Füße treten dürften und deshalb stets halbherzig seien. Nicht Arrangement mit der modernen Welt (und erst recht nicht mit sich selbst!) sei das Gebot der Verkündigung, sondern die beständige Umkehr – so wie im Alltag der Ehe. (Auch das demütig-geduldige Hinhören beim Lesen der Hl. Schrift – im Vertrauen auf die absolute Wahrheit des fleischgewordenen Wortes (Logos), die sich oft erst im langen vertrauten Umgang mit ihm erschließe – ist ein Ausdruck dieser vorbehaltlosen Liebe, die Vater Ambrosius verkörperte.)

Nicht um der Wohligkeit willen gebe es die ökumenische Begegnung, sondern „dass die Welt glaube“ ( vgl. Joh 1,7 ). Und in diesem Geist nahm Vater Ambrosius z.B. jahrzehntelang an der ökumenischen St.Ansgar-Vesper zum Fest des „Apostels des Nordens“ und ersten Bischofs von Hamburg und Bremen am 3.2. teil, grenzte sich aber unmissverständlich vom immer drängender artikulierten „Konfessions- und Kommunion-Tourismus“ um oberflächlicher Gemeinschafts-Erlebnisse willen ab.

Wenn er dagegen unermüdlich die Kirche als die durch Christus versöhnte Gemeinschaft der Sünder beschwor – seit seiner „Verheiratung“ mit der russischen Orthodoxie - und als deren Medium das zur Lebenshaltung (zum Habitus) gewordene Gebet als „zielloses Ziergespräch“ (Th. Mann) in personaler Offenheit bezeugte, konnte er sich wiederum auf die Alltagserfahrung der Ehe berufen, speise sie sich doch von der jeder Liebe eigentümlichen Wiederholung der vertrauten Vollzüge. Gerade bei „spirituellen“ Gesprächspartnern wie Muslimen und Buddhisten fand er damit bisweilen mehr Resonanz als bei westlichen Christen, die ein eher aktionistisches Gottesdienst-Verständnis pflegen und dabei die Vereinigung mit Christus in der hl. Kommunion – der christlichen Weise der „unio mystica“, zu der Beten, Fasten und Versenkung nur Wege sind – immer geringer achten. Insofern war die eucharistische Frömmigkeit ständiger Inhalt seiner Predigten in der Göttlichen Liturgie.

Am Himmelfahrts-Fest hören wir den Appell des hl. Propheten Jesaja: „Stellt ein Zeichen auf für die Völker!“ (Jes 62,10c). Zum Zeichen des Lebenszeugnisses von Vater Ambrosius gehören: die ansteckende Glaubensfreude, die herzliche Ausstrahlung auch auf Ferner-Stehende, der unaufdringlich-liebevolle Verkündigungseifer, die geduldige versöhnliche Friedensarbeit, die kraftvolle Demut im Ertragen des eigenen Leidens.

(überarbeitete Fassung des im Boten 3/2005 erschienenen Nachrufs)

„Ewiges Gedenken!“




Vorträge von Vater Ambrosius:

Vortrag `Eastside Projekt´

18. August 2004

Mann - Frau – Ehe - Liebe

Liebende leben von der Vergebung

Vielen Dank für die Einladung!
Liebe Brüder und Schwestern, vielen Dank, daß wir zusammen sind.

Es steht alles in der Bibel. Das sind meine Erfahrungen. Das Wort Gottes ist immer für mich die Leuchte auf dem Wege meines Lebens gewesen. Spr. 6, 23:

Denn das Gebot ist eine Leuchte
und die Weisung ein Licht,
und die Vermahnung ist der Weg des Lebens.

Und so will ich auch über Mann und Frau von der Heiligen Schrift her reden.

Die Frau ist aus dem Herzen des Mannes geschaffen.
1. Mos. 2:

21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch.
22 Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.

So sagt die Heilige Schrift: `Gott schuf den Menschen; als Mann und Frau schuf ER sie.´ (1. Mose 1, 27 u. Mt.19, 4)

Adam, der Mensch, ist eine Einheit, die auf ein Gegenüber hin geschaffen ist und sich als einsam erlebt. So entfaltet Gott die Menschen zu einem Miteinander, und das Bild der Rippe weist darauf hin; die Verbundenheit ist im Herzen gegründet. So sieht man es auch deutlich in den Bildern – in der Sixtinischen Kapelle wie in den Ikonen (z.B. in den Fresken der serbischen Kirche des heiligen Sava in Hannover). Aus der Herz-Region geht die Frau hervor, im Herzen sind sie verbunden und sind ein Leib, weil sie aus dem Herzen, mit den Herzen zusammengehören.

Diese Gemeinschaft umfaßt alle Bereiche des Lebens: die soziale (Vater und Mutter), die persönliche („ . . .an seinem Weib hangen, ihr Verlangen wird nach ihrem Mann sein.“) und die leibliche („ . . .werden ein Leib sein.“).

(„Die Sünde hat das harmonische System der von Gott verordneten Rollen in einen unangenehmen Kampf des Eigenwillens verwandelt. Mann und Frau brauchen als lebenslange Gefährten folglich Gottes Hilfe, um miteinander klarzukommen.“ – John Marc Arthur; Studienbibel, S. 54)

Eph. 5:

31 »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Leib sein«

Die Betrachtung unserer wissenschaftlichen Kenntnis über die Entstehung und Entwicklung der Zweigeschlechtlichkeit und der Mythen der Völker (`Mythen alter Kulturen´; 10 Bände; ISBN 3-15-030025-8) macht uns deutlich, wie einmalig und schön der Bericht und die Deutung der Bibel ist.

Fast eine Milliarde Jahre gab es auf der Erde nur Lebewesen, die eingeschlechtlich waren, die nicht unterschieden waren in „weiblich“ und „männlich“.

Das Leben pflanzte sich fort durch Teilung, so daß – abgesehen von Fehlern in dem Vorgang der Teilung – immer wieder gleiche Lebewesen entstanden. Die Erbinformation war zunächst in der ganzen Zelle verteilt (Prokaryoten) und wurde dann im Zellkern zusammengefaßt (Karyoten). Mit der Entstehung von zwei Geschlechtern verteilte sich die Erbinformation bei der Vereinigung männlicher und weiblicher Geschlechtszellen und verband sich in immer neuen Kombinationen, und die Vielfalt der Lebewesen erreichte eine Ausmaß, das fast keine Grenzen mehr hatte für immer neue Gestalten. Die unendliche Vielfalt des Lebens heute auf unserer Erde ist die Folge der Möglichkeiten der Zweigeschlechtlichkeit.

Das wußte die Menschheit offenbar in ihren Sagen und Mythen schon von Anfang an. Ich denke jetzt an den androgynen [1] Urmenschen der griechischen Mythologie. Der androgyne (andros = der Mann; gyne = die Frau), der Mann-Frau-Mensch, wurde dargestellt als ein menschliches Wesen, im Rücken verbunden; das eine Gesicht ist das männliche, das andere das weibliche. Sie können sich nicht ansehen. Und erst, als sie getrennt, geteilt wurden und dann auseinandergingen und sich zueinander umwandten, da sahen sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Ein Mythos. Aber gerade, wenn man sich das vorstellt, dann spürt man, wie schön es in der Heiligen Schrift beschrieben ist: Sie sind nicht am Rücken, sondern immer in ihrem Herzen verbunden.

Und dann gibt es einen sehr seltsamen Satz, den wir meistens nicht beachten:
1. Mose 3:

16 Und zur Frau sprach er (nach dem Sündenfall): Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bewußt ist, was das bedeutet. Das bedeutet, das Herr-Sein des Mannes ist eine Folge der Sünde. Gerade in unserer modernen Zeit, wo viel von Gleichberechtigung geredet wird, muß man sich das wirklich klar machen: Die Heilige Schrift sagt uns ganz eindeutig nach dem Sündenfall: „Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“

Das Herr-Sein des Mannes ist ein Folge der Sünde, von der uns Christus erlöst hat. So schreibt der heilige Apostel Paulus (Epheser 5, 21): „Ordnet Euch einander unter in der Furcht Christi.“ Einander unter. In der Orthodoxen Kirche wird immer wieder gebetet: „. . . und lasset uns uns selbst und einander und unser ganzes Leben Christo, unserem Gott, befehlen.“

Das ist die Erlösung, die Erlösung von dem, was den Menschen betroffen gemacht hat durch den Sündenfall, daß er entstellt war. Herrschaftsverhältnisse sind immer eine Entstellung des Bildes Gottes. Gott hat jeden von uns nach SEINEM Bilde geschaffen. Die Sünde entstellt uns, und wir werden erlöst von dieser Entstellung durch Jesus Christus. Lasset uns einander (einer dem anderen) und uns selbst Christo, unserem Gott, befehlen.

Es gibt zwei schöne Sätze, die mich immer sehr beeindruckt haben:
„Ehen werden im Himmel geschlossen.“ – So haben die Chinesen das sehr schön in einem Bild dargestellt: Wenn ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge geboren werden (auch wenn sie viele Tausende Kilometer voneinander entfernt sind) und einmal zusammengehören, dann macht ein Engel einen kleinen Faden von dem einen großen Zeh zu dem anderen großen Zeh, und der Faden wird immer enger und enger und enger, und irgendwann kommen sie zusammen.

Das ist mir deshalb so wichtig, weil die ganze Problematik der Art, wie Mann und Frau zusammenkommen, in der Geschichte ständig gewechselt hat. Ehen wurden doch weitgehend (und werden heute noch) von den Eltern geschlossen. Ob das schlecht oder gut ist, darüber will ich mich gar nicht äußern. Oder sie wurden geschlossen in den Adelsfamilien im Rittertum im 12. Jahrhundert nach dem Gesichtspunkt der Herrschaft, der Genealogie. Oder in der österreichischen Monarchie: „Führe keine Kriege, sondern heirate.“ So war einmal das Motto der österreichischen Kaiser.

(Durch seine dynastische Heiratspolitik, besonders durch das herzogliche burgundische Erbe, den Anfall des spanischen Königreichs und den Erwerb der Wenzels- und der Stephanskrone (1526), vollzog sich der Aufstieg der Habsburger zur europäischen Großmacht (Bella gerant alii. Tu, felix Austria: Nube! – Kriege führen andere. Du, glückliches Österreich: Heirate!
© Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004)

Die Idee – besser: die Hoffnung – auf die Liebesheirat und die vollkommene Ehe, die aus der nur in der Liebe gegründeten Gemeinschaft lebt, ist so alt wie die Menschheit, jedenfalls so alt wie die Literatur der Völker.

Das gibt es schon im Alten Testament. Denken Sie an das Buch Ruth. Eine Liebesgeschichte und eine Geschichte aus dem Stammbaum Jesu. Eine vielschichtige Geschichte. Ruth, die Moabiterin, folgt ihrer Schwiegermutter aus Liebe und Treue, die wieder in ihr Heimatland, nach Bethlehem, zurückkehrt. Als Ausländerin sammelt sie die Ähren, die bei der Ernte auf dem Feld liegenbleiben, wie es damals für die Ärmsten und Fremden üblich war. Boas, der Herr des Feldes, findet Gefallen an ihr, und von ihrer Treue zu ihrer Schwiegermutter wird schon in der Stadt erzählt. So wird sie die Frau des Boas und die Großmutter des Königs David. Als Frau wird sie im Stammbaum Jesu genannt.

Matthäus 1:

5 Salmon zeugte Boas mit der Rahab. Boas zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai.

Die Liebesgeschichten der Völker führen selten (wie bei Andromeda und Perseus oder bei Odysseus) zu einer beständigen und glücklichen Ehe. Die Chinesen haben immer sehr schön gesagt: „Die chinesische Ehe ist ein Wassertopf, kalt, und der wird auf einen Herd gestellt. Dann wird er heiß, und dann bekommt die Ehe Bestand. Die europäische Ehe ist ein Topf mit kochendem Wasser, der keinen Herd hat und sich wieder abkühlt.“ So die kritischen Chinesen. Aber daran ist natürlich auch etwas Wahres.

Der Topf kalten Wassers ist in diesem Bild die wohlüberlegte Ehe, die nach Vernunft und Nutzen geschlossen wird, die sich „rechnet“, wie wir heute gerne sagen.

Der Topf mit heißem Wasser, der keinen Herd und kein Feuer unter sich hat, ist das Bild der Ehe, die aus jugendlicher, noch unbedachter Liebe geschlossen wird.

Beide Bilder und Möglichkeiten sind keine unversöhnlichen Gegensätze. Die Ehe der Verliebten kann eingebettet sein in die Gemeinschaft und Fürbitte der Familien. So führen bei der orthodoxen Trauung und bei vielen Hochzeitsbräuchen die Eltern ihre Kinder zusammen: Der Vater der Braut bringt seine Tochter zum Altar, wo beide auf den Bräutigam warten, der von seiner Mutter zum Altar und zu seiner Geliebten geführt wird.

Es gibt viele Aussagen in der Heiligen Schrift, die uns offenbaren und uns deutlich machen, wie eine Ehe glücklich wird, um das ganz einfach zu sagen. Im Grunde wissen wir das selbst; vieles ist in der Liebeskunst des Ovid (Ars Amandi [lateinisch] die, Liebeskunst; Ars amatoria, ein Lehrgedicht von Ovid) zusammengefaßt.

Aber das Wort Gottes ist nicht nur Information, sondern auch Stärkung; da wir uns dem Wort des Herrn anvertrauen, schenkt ER uns Vollmacht, zu tun und zu leben, was wir hören.

Ps. 33:

4 Denn des HERRN Wort ist wahrhaftig, und was ER zusagt, das hält ER gewiß.

Von dieser von Gott geschenkten Kraft des Wortes leben die Liebenden, auch wenn sie es nicht bewußt erkannt haben. Das Wort der Liebe ist wirklichkeitsschaffend; am Standesamt wirkt das Wort von Mann und Frau einen von der Gesellschaft geschützten Rechtsstatus: verheiratet zu sein. In der Römisch-Katholischen Kirche wirkt das Wort des Bekenntnisses zueinander das Sakrament der Ehe: eingebettet zu sein in den Segen und in die Gegenwart Christi in der Gemeinsamkeit des Lebens.

Rebekka: Der älteste Knecht Abrahams wird in die Stadt Nahors geschickt, um eine Frau für Isaak, den Sohn Abrahams, zu finden. Wie soll er die Richtige unter den vielen schönen Mädchen finden?
1. Mose 24:

4 Wenn nun ein Mädchen kommt, zu dem ich spreche: Neige deinen Krug und laß mich trinken, und es sprechen wird: Trinke, ich will deine Kamele auch tränken -, das sei die, die du deinem Diener Isaak beschert hast, und daran werde ich erkennen, daß du Barmherzigkeit an meinem Herrn getan hast.

An den Kamelen hängt der Bestand, das Glück unserer Ehe.

Wir sind in der Liebe ganz für einander da. Das ist die Quelle und der Grund für unser Miteinander-Sein. Aber die Liebe oder die Gemeinschaft, die sich nur auf sich beschränkt, hat keinen Bestand.

Ich erinnere: Als ich noch ein junger Arzt war, war die Zeit des Wirtschaftswunders. Da lebten noch Adenauer und Erhard, die Leute, die die Wirtschaft zum Blühen gebracht haben. Da gab es junge Leute, die arbeiteten beide fleißig, kauften sich ein Grundstück und bauten ein Haus. Dann wurde das Haus eingerichtet, die Ehe war eitel Glück und Fröhlichkeit, und es war alles herrlich. Dann arbeiteten sie weiter beide; dann konnten sie sich ein Auto anschaffen. Und eines Tages – das dauerte gar nicht so lange: manchmal drei, vier, fünf Jahre – war das Haus fertig, der Garten in Ordnung, es mußte nur noch der Rasen gemäht, das Auto geputzt werden. Sie hatten „alles“. Und dann begannen sie sich zu streiten; sie hatten sich „nichts mehr zu sagen“; sie hatten „sich nie geliebt“ – und es gibt andere Standardsätze, die einer Ehescheidung vorangehen.

Man muß schon an die durstigen Kamele denken, damit die Ehe glücklich bleibt. Das kann sich natürlich in sehr verschiedenen Dingen ausdrücken. Aber nur wenn wir die Nächsten und die Tiere und die Pflanzen und die ganze Schöpfung in unsere Liebe einschließen, ist unsere Liebe gesegnet.

Diesen Zusammenhang habe ich damals noch nicht begriffen. Ich war ein junger Arzt. Ich habe immer wieder diese zerbrechenden Ehen erlebt. Ich habe mich nur gewundert, ohne an die „Kamele“ zu denken. Diese schreckliche, fast unausweichliche Dynamik, daß die Ehe leer und sinnlos wird, wenn Mann und Frau nur an sich denken, wenn Gemeinschaft nur die Voraussetzung für Erfolg und Besitz ist, gilt zu allen Zeiten – zur Zeit der Rebekka wie auch in unseren Tagen. Die Familien, an die ich jetzt denke, war Vorzeigefamilien: gute, glückliche Ehen, wohlgeratene Kinder. Die Ehen schienen gefestigt; die Familien lebte unter dem Segen des Ehesakramentes der katholischen Kirche. Aber das blieb nur so lange beständig, bis die Häuser fertig waren, die Autos abbezahlt, die Kinder „aus dem Gröbsten heraus“. Und dann begann es zu bröckeln, mit den Sprüchen: „Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“, „Ich habe dich nie geliebt.“, „Ich bin nicht geeignet für die Ehe.“ Wir waren 50 Jahre und einige Wochen verheiratet („ . . . bis daß der Tod euch scheidet“). Wir waren zuerst ein wenig arm, später auch nicht richtig reich. Es gab immer neue Menschen, denen wir zu helfen versuchten; es fehlte nie an „Kamelen“. Wir haben erst sehr spät erkannt, wie wesentlich dies nicht ganz bequeme Leben für unsere Ehe gewesen ist.

Also: Denken wir an die Kamele.

Aber es gibt noch eine andere Stelle der Heiligen Schrift, die mir zur Grundlage der Ehe geworden ist:
Johannes 2, 1-11: die Hochzeit zu Kana in Galiläa, das Evangelium, das bei der orthodoxen Trauung gelesen wird.

Jesus ist eingeladen.
Das ist für mich die große Überschrift über alles, was wir Trauung nennen. Wir laden Jesus ein zu unserer Hochzeit, und ER kommt mit Seiner Mutter – und die Mutter sieht natürlich gleich alles; sie sieht, daß der Bräutigam zu wenig Wein eingekauft hat oder die Leute zu viel getrunken haben.

Johannes 2:

2 Jesus aber und seine Jünger waren auch zur Hochzeit geladen.
3 Und als der Wein ausging, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr.

Und ER fährt sie richtig an. Es ist eine sehr harte Rede. „Was ist das zwischen MIR und dir, Weib?“ sagt ER zu ihr. „MEINE Zeit ist noch nicht gekommen.“ Und Seine Mutter, die ihn ja nun wirklich kennt – die Mutter kennt ihren Sohn –, die ärgert sich überhaupt nicht, die sagt nur zu den Dienern: „Was ER euch sagt, das tut.“ Und nach einiger Zeit spricht Jesus zu den Dienern (Joh. 2, 7-10):
Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan. Und er spricht zu ihnen: Schöpft nun und bringt's dem Speisemeister! (griech.: „architriklin“ – ein schönes Wort) Und sie brachten's ihm. Als aber der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wußte, woher er kam - die Diener aber wußten's, die das Wasser geschöpft hatten -, ruft der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie betrunken werden, den geringeren; du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten.

Die Heilige Schrift ist so wirklichkeitsnah: Wenn das Wasser der Fußwaschung zum köstlichen Wein wird, dann ist die Ehe glücklich. Es geht um die Kleinigkeiten – es dreht sich eben nicht um den Wein, den wir im Laden kaufen können, sondern es dreht sich darum, daß unscheinbare Kleinigkeiten zum Ausdruck der Liebe werden. Das fällt einem nicht so schwer, wenn man verliebt ist, ehe man geheiratet hat. Dann fällt einem alles mögliche ein: Er pflückt ihr eine Blume ab, er hilft ihr, steigt aus dem Auto aus, geht um das Auto herum, macht ihr die Tür auf, . . . Lauter Kleinigkeiten. Diese Kleinigkeiten sind so schön, und sie machen beiden Spaß. Und dann wird man älter und älter, und dann wird man faul und nachlässig – und dann? Ja, dann man muß man sich, dann darf man sich an diese Geschichte erinnern. Zu Anfang ist alles selbstverständlich, aber später muß man doch mal darüber nachdenken.

Ich habe schon gesagt, es ist mir oft nicht so richtig geglückt, den jungen Leuten diese Wirklichkeit klar zu machen: daß sie von Anfang an an die Kamele denken, an die Kleinigkeiten. Man kann das sehr grob sagen: Am Ehebruch geht keine Ehe kaputt, das ist alles einmalig, aber an den Schuhen, die der Ehemann immer schief unters Bett stellt. Daran ist schon manche Ehe gescheitert.

Alles etwas übertrieben, aber ganz erstaunlich ist, daß es eben nicht die großen Dinge sind: Krankheit, selbst Geisteskrankheit – es muß ja nicht gleich Ehebruch sein. Denken Sie, daß der Ehemann Schizophrenie bekommt oder Parkinson oder Alzheimer. Das sind alles Dinge, die kann eine Liebe tragen. Aber die Kleinigkeiten, die ganzen unscheinbaren, unwichtigen Kleinigkeiten sind, wenn sie mir gegen den Strich gehen, unerträglich. „Gegen den Strich gehen“ – ein ausdrucksvoller deutscher Ausdruck. Unsere Haare liegen in einer Richtung – das muß nicht so sein, aber das ist so –, und das, was dagegenbürstet, wird uns immer unerträglicher, gerade weil es so unwichtig aber so ständig und alltäglich ist.

Jeder Mensch, ob Frau oder Mann, hat seine Eigenheiten. Zuerst sind sie liebenswert, niedlich, originell, typisch, zum Anbeißen. Eines Tages werden sie störend, blöde, ungezogen – und welche Worte man dafür findet, erst nur gedacht, später auch ausgesprochen („Das mußt du aber nun endlich einmal ablegen. Ich ertrage das nicht mehr.“ – und in welchen Sätzen sich der ermüdete Unmut auch ausdrückt.)

Wie gehen wir mit diesen Kleinigkeiten um?
Die erste vernünftige Antwort lautet: Das sind doch nur Kleinigkeiten. Diese Antwort ist wirklich vernünftig, aber sie verkennt die Wirklichkeit der Ehe. So wird ein Außenstehender sagen, aber nicht der Betroffene.

Die Anlässe zum „Streit“ – leider nicht nur in Anführungsstrichen – sind so unbedeutend, und doch können wir uns nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Gottes Hilfe gegen den Unmut wehren.

Wir hatten nur eine kleine Wohnung. Es war nicht viel Platz, die Küche ist nicht größer als der Tisch hier. Meine Frau wusch jeden Teller gleich nach dem Gebrauch ab – ebenso vernünftig wie störend, denn das Essen wurde immer etwas gestört dadurch, daß sie in die Küche rannte und das, was gerade benutzt worden war, abgewaschen hat (natürlich nicht, wenn wir Gäste hatten). Es bringt eben den guten Ehemann so auf, daß er nicht so gut wie die Gäste behandelt wird. Also ist es gut, wenn wir einander immer so behandelten, als ob der Ehegatte ein besonders wichtiger und geschätzter Gast sei.

Aber es ist doch erstaunlich: Wenn man so unscheinbare Kleinigkeiten bedenkt, spürt man, wie wichtig sie sind.

Wenn das Wasser der Fußwaschung zum köstlichen Wein wird, dann hat die Ehe Bestand.

Hoheslied 5, 2: Ich schlief, aber mein Herz war wach. Ich schlafe, aber mein Herz wacht. Dieser Vers des Hohenliedes meint die Gegenwart der Liebe, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich einschließt.

Unter „Herz“ versteht die Bibel – und mit ihr alle Poesie – nicht die kleine unermüdliche Pumpe, deren Funktion und Bedeutung erst Harvey 1642 entdeckt hatte, sondern die vom schlagenden Herzen ausgehende Mitte des Körpers und der Seele.

Ps. 51:
12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.

Matth. 5:
8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Es ist zwar offensichtlich, daß für die Liebe die seelisch-körperliche Mitte des Menschen das Herz ist, das uns in der Liebe verbindet, aber in der Praxis des Verliebtseins verwechseln wir oft unsere Einheit und Verbundenheit im Herzen mit der Begehrlichkeit des Körpers.

Es mag uns auch die Schönheit und Attraktivität des Körpers zur Verbundenheit im Herzen führen, aber nur selten werden wir aus eigener Kraft diesen Weg gehen. Den Rat anderer hören wir nicht oder nur widerwillig, wenn wir verliebt sind. Und an Gott und die heiligen Engel, die uns zum rechten Ziele führen, denken wir kaum im ersten Feuer der Liebe.

Freude und Beständigkeit der Liebe kommt aus dem Herzen, mit dessen Augen der Körper seinen wahren Wert und seinen rechten Ort empfängt als in Liebe verbundener Bruder der Seele.

Da gibt es diese etwas makabre russische Geschichte von Stroganoff; es gibt das „Boef Stroganoff“, das ist ein Steak, das in schmale Streifen geschnitten ist.

Die Geschichte dazu ist:
Stroganoff trifft seinen Freund im Restaurant. Er ist ein bißchen aufgeregt, er hat sein Steak schon vor sich. Sein Freund: „Warum bist du denn so aufgeregt?“ „Ach“, sagt er, „meine Frau hat mich betrogen, ich habe sie mit ihrem Liebhaber im Bett entdeckt . . . na ja, . . . ich habe ihren Liebhaber gefragt: `Was liebst du – ihren Körper oder ihre Seele?´“ „Und was hat er gesagt?“ „Die Seele.“ „Und was hast du gemacht?“ – „Dann . . .“ Stroganoff macht mit dem Messer aus dem Steak schmale, kleine Streifen, um seinem Freund zu zeigen, was er mit seinem Nebenbuhler gemacht hat. So ist das Boef Stroganoff entstanden.

Das ist eine sehr „wahre“ Geschichte. Hoffentlich ist sie nicht wahr, aber bildhaft ist sie sehr ausdrucksvoll und erzählt, daß es auch in der Leidenschaft des Ehebruches letzten Endes um die Seele geht.

Die Bedeutung des Körpers in der Liebe ist nicht einfach zu beschreiben. Ich denke an den Roman „Soll und Haben“ von Gustav Freytag. Eine Episode hat mir einen neuen Gedanken im Hinblick auf den Körper der Frau nahe gebracht. Für uns heute Vergangenheit.

Gustav Freytag erzählt, wie ein junger Mann mit einer jungen Dame, die er zu lieben beginnt, durch den Park geht. Sie sind etwas abgelenkt, und das Mädchen rutscht aus und fällt in den Teich. Er rettet sie. Weil sie aber so naß ist, liegen ihre Kleider ganz eng am Körper an. Der junge Mann sieht zum ersten Mal eine Frau in ihrer wirklichen Gestalt. So hat es Freytag (1815- 1895) damals beschrieben.

Auch in der Heiligen Schrift gibt es eine solche Geschichte:

2. Sam. 11:
2 Und es begab sich, daß David um den Abend aufstand von seinem Lager und sich auf dem Dach des Königshauses erging; da sah er vom Dach aus eine Frau sich waschen; und die Frau war von sehr schöner Gestalt.

(Auch: Geschichte von Susanna und Daniel; das Buch gehört in der Lutherbibel zu den Apokryphen, weil es nur im griechischen Text überliefert ist.)

Der Körper wird zum Ausdruck der Liebe und ist zugleich mehrdeutig.

Der Körper dient der Verführung und sucht ohne Beteiligung der Seele Menschen aneinander zu binden, zu ketten. Der Körper in seiner Gestalt und Schönheit weckt das Verlangen nach Nähe und Gemeinsamkeit. Wie schön ist es, zusammen zu ruhen und in zarter Berührung die Nähe des Geliebten, der Geliebten zu spüren und ihren Duft einzuatmen. Schön wird diese Gemeinsamkeit, wenn sie nicht von Nur-an-sich-selbst-denken entstellt ist.

Hoheslied 8:
4 Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, daß ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.

Dreimal wiederholt das Hohelied diesen Vers (2, 7 + 3, 5). Liebe ist schön und hat Bestand, wenn ich ganz für den da bin, der/die bei mir ist.

Daß ich ganz zu mir selbst komme und der, den/die ich liebe ganz zu sich selbst kommt, ist das Geheimnis der wachsenden und reifenden Liebe – auch den Schlaf nicht stören, bis es „ihr selber gefällt.“

So erinnere ich Gespräche, ob die Frau oder der Mann schöner sei. Natürlich empfanden Frauen und Männer anders – auch die Kunst. Vor allem die griechischen Statuen stellen Mann und Frau in gleicher Schönheit und Vollkommenheit dar. Und doch ist die Schönheit, die unser Herz berührt, nicht die schöne Norm, sondern die einmalige Gestalt.

Mir wurde erzählt, vor einem amerikanischen Museum stände in Marmor die „Miss Norm“, die die Durchschnittswerte vieler Frauen in ihren Maßen darstellte. Es heißt, niemand habe dieser unbekleideten Frau einen Blick gegönnt. Es ist nicht die schöne Norm – alles nach dem goldenen Schnitt –, die das Herz liebt, sondern die einmalige Gestalt

Wenn wir das zu leben beginnen, hat auch das Altern keine Schrecken mehr. Altern wird zur Vollendung der Liebe – der ehelichen Liebe, der kindlichen Liebe.

Ich erinnere unsere Mutter als schöne Frau. Und wenn ich zurückdenke, habe ich nicht die junge Frau vor Augen, die sie war, als ich geboren wurde (39 Jahre), sondern die alte Frau in ihrer lebenserfüllten Schönheit.

Daß Altern bedroht die Liebe nicht, wenn wir Mutter und Geliebte mit den Augen des Herzens sehen. Darum begleitet mich das Wort des Hohenliedes durch die Jahre

„Mein Herz ist wach.“

Die wahre Liebekunst besteht darin, mein Gegenüber mit den Augen Gottes zu sehen.
Es wird erzählt: Es lebte ein Einsiedler in den Höhlen der Wüste. Er hatte ein reines Herz, betete mit Liebe zu Gott im Wachen und im Schlafen; begegnete allen Geschöpfen mit herzlicher Liebe und wuchs und reifte im Glauben an Christus, DER um unseretwillen Mensch geworden ist, DER für uns gekreuzigt wurde und auferstanden ist von den Toten.

Der Teufel hatte schon vieles versucht, diesen Man zu Fall zu bringen, aber nichts brachte den Einsiedler von seinem einfachen, Gott zugewandten Leben ab. Da dachte der Teufel: „Auch dieser Mann wird den verführerischen Reizen einer schönen Frau nicht widerstehen können.“

Der Teufel machte sich große Mühe und fand eine Frau, die – so dachte der Teufel – ebenso schön wie verführerisch war.

Diese Frau brachte er eines sonnigen Morgens vor die Höhle des Einsiedlers. Als der Einsiedler nach dem Morgengebet aus der Höhle kam, sah er die Frau in ihrer herrlichen Gewandung, die nicht nur verhüllte. Er betrachte sie lange und liebevoll, dann rief er aus: „Ich danke DIR, GOTT, daß DU ein so schönes Geschöpf geschaffen hast!“ Da war der Teufel mit seiner Weisheit am Ende.

Der Einsiedler hatte die wahre Schönheit dieser Frau gesehen; er hatte sie gesehen und angesehen mit den Augen Gottes.

Nur daran zu denken, daß Gott uns liebevoll ansieht – mich, meinen Nächsten und alle Fernen –, macht unser Herz und unsere Augen aufmerksam, bei jedem Blick, bei jedem Urteil Gott vor Augen zu haben und zu fühlen, daß ER uns ansieht und wir an diesem Blick Gottes teilhaben dürfen.

1. Mose 1:
28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

In diesem Vers ist der Weg und das Ziel der Ehe beschrieben und der Weg und das Ziel des Wanderns des Menschen durch die Geschichte.

Gottes Segen begleitet und uns führt uns. Wir dürfen demütig und aufmerksam Gott folgen, DER uns vorangeht, bis ER wiederkommen wird und Seines Reiches kein Ende sein wird.

Unsere Fruchtbarkeit ist uns geschenkt, daß die Erde erfüllt wird von Leben in Schönheit und Frieden, denn ER ist der „König des Friedens und der Heiland unserer Seelen“, wie wir im Morgengottesdienst beten.

Fruchtbarkeit ist uns geschenkt, daß aus den Geschlechtern der Menschen CHRISTUS geboren wird und in jedem neugeborenen Menschen Sein Bild und Seine Ähnlichkeit diese Schöpfung erfüllt.

Der Fluch der Unfruchtbarkeit ist von uns genommen, da Christus geboren ist aus der Immerjungfrau Maria. Jungfräulichkeit wird der Weg der neuen Zeit, die an der Krippe in Bethlehem begann. Die Kinder, die wie Weinstöcke den Tisch des Hauses umstehen (Psalm 128, 3), sind ein Geschenk des Herrn, das von dem Fluch des Zwanges und der Notwendigkeit frei ist und in neuer Weise das Reifen und Wachsen der Menschheit segnet.

Wir leben in der Freiheit, die uns Christus geschenkt hat, die jeden von uns seinen Weg auf Christus hin führt.

Die körperliche Vereinigung ist nicht mehr nur dem einen Ziele zugewandt, Kinder zu zeugen; so war es schon von Anfang an für die Zeit, da den Ehegatten aus biologischen Gründen keine Nachkommen mehr in Aussicht standen. Die Wunder der Spätgeborenen – zuerst Isaak – sind vornehmlich Wunder des Alten Bundes. So ist und bleibt das Kind immer Geschenk Gottes, wie es schon die Upanishaden wußten. Dort heißt es sinngemäß: „Zur Zeugung eines Kindes bedarf es einer gesunden, empfängnisbereiten Frau, eines gesunden zeugungsfähigen Mannes und noch etwas, das wir nicht beschreiben können.“

GOTT, DEN wir im Heiligen Geist anrufen als den Lebensspender, ist immer Urheber und Schöpfer des Lebens.

Wo wir unter dieser Wirklichkeit an das denken, was wir sehr menschlich Familienplanung nennen, wird auch unser Forschen und Lernen – gerade der modernen Wissenschaft – gesegnet sein.

1. Mos. 1, 28:
Und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

Herrschen, wie Gott herrscht, in Liebe und zur Erfüllung und Vollendung des Wesens und der Gemeinschaft der Geschöpfe. Dafür ist der Name und der Garten des Paradieses ein anschauliches Bild, das unsere Praxis und unser Leben mit den Geschöpfen, mit der Umwelt gestaltet.

1. Mos. 2:
19 Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen.
20 Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.

Im Namen kommt das Sein, das Geschöpf Tier und Mensch zu seiner Vollendung und Gestalt: Von dem Namen der Tiere im Paradies über das hochmütige Begehren der Menschen, die den Turm zu Babel bauten (1. Mos. 11, 44), zu dem großen Namen, den Gott Abram verheißt (1. Mos. 12, 2).

Abram und wir predigen den Namen des Herrn (1. Mos. 12, 8; 13, 4), und wir beten: „Geheiligt werde DEIN Name!“ (Matth. 6, 9; Luk. 11, 2). So dienen die Leviten (5. Mos. 18, 7) und wir dem Namen des Herrn.

Unser Name verbindet uns mit den Heiligen, wir werden in Taufe und Beichte und Abendmahl bei unserem Namen gerufen, denn Gott kennt uns bei unserem Namen und wir sind SEIN.

Die Bedeutung des Namens finden wir auch in Märchen (Rumpelstilzchen), in den Mythen bis hin zur „Unendlichen Geschichte.“

2. Mos. 2, 8:
Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte.

Der Garten, der Park ist ein Bild einer harmonischen Welt. Im Garten sorgt sich der Gärtner um alle Geschöpfe, daß sie sich entfalten können und miteinander in Frieden leben. Gott läßt uns an diesem Werk – am Werden der Welt, da die Geschöpfe in Frieden und Harmonie miteinander leben – teilhaben, das ER vollenden wird.

Offbg. 21:
1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Jes. 65:
25 Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muß Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.

Jes. 11:
5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und der Glaube der Gurt seiner Hüften. 6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.
7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.
8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.
9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

Hesekiel fügt diesen Bildern noch ein Bild hinzu – von den Tieren und den Rädern:

Hesekiel 1:
19 Und wenn die Gestalten (Tiere, die beschrieben werden als Mensch, Löwe, Stier, Adler) gingen, so gingen auch die Räder mit, und wenn die Gestalten sich von der Erde emporhoben, so hoben die Räder sich auch empor.
20 Wohin der Geist sie trieb, dahin gingen sie, und die Räder hoben sich mit ihnen empor; denn es war der Geist der Gestalten in den Rädern.
21 Wenn sie gingen, so gingen diese auch; wenn sie standen, so standen diese auch; und wenn sie sich emporhoben von der Erde, so hoben sich auch die Räder mit ihnen empor; denn es war der Geist der Gestalten in den Rädern.

Dieses Bild des Hesekiel beschreibt eine Welt, in der es – um es einfach zu sagen – keine Verkehrsunfälle mehr gibt, d.h. die belebte und unbelebte Schöpfung ist in Eintracht, in einem harmonischen Zusammenwirken.

Gott läßt uns in allen Kleinigkeiten unseres Lebens daran teilhaben – ob wir unsere Wohnung einrichten, unsere Blumen pflegen oder unseren Hund ausführen, ob wir Verkehrsregeln erproben oder uns um Sicherheit in unserem Haus oder bei der Arbeit bemühen.

Das Buch Tobias, in der Lutherbibel unter den Apokryphen, überliefert in der griechischen Bibel, gehört in der Römisch-Katholischen und Orthodoxen Kirche zur Heiligen Schrift.

Das Buch Tobias ist ein vielgestaltiges Buch mit einer geradlinigen Geschichte, die in bildhafter und doch wirklichkeitsnaher Sprache von der Hochzeitsnacht und der körperlichen Liebe spricht.

Der junge Tobias macht sich im Auftrag seines Vaters, der durch den Kot einer Schwalbe blind geworden ist, auf nach Rages in Medien. Ihm gesellt sich der Erzengel Raphael zu, und sie kommen nach kleinen Abenteuern in das Haus eines fernen Verwandten Raguel, der eine Tochter Sara hat, das einzige Kind der Familie.

Tobias verliebt sich auf den ersten Blick in die Tochter und hält um ihre Hand an. Der Vater scheint darüber nicht glücklich zu sein. Auf seiner Tochter lastet ein Fluch; sieben Männer, denen sie angetraut war, sind in der Hochzeitsnacht gestorben. Raguel zeigt dem jungen Tobias die sieben Gräber im Garten.

Auf Tobias macht das keinen Eindruck. Er ist verliebt und bleibt bei seinem Entschluß. Der Engel ist auf der Seite des Tobias.

Ich fasse die Geschichte in einfache Worte. Sie erzählt von dem Chaos, in das der Mensch, in der Liebe zu stürzen vermag, die ebenso lebensspendend wie tötend sein kann. Der Rat des Engels ist einfach: „Wendet euch von ganzem Herzen in eurer Hochzeitsnacht zu GOTT.“

So wird die Hochzeit gefeiert. Die Brautleute gehen in das Hochzeitszimmer – der Vater in den Garten, ein neues Grab auszuheben.

Als sie vor dem Hochzeitsbett stehen (Tobias 8, 4), fordert Tobias die Jungfrau auf: „Steh auf. Wir wollen heute, morgen und übermorgen zu Gott beten und in diesen drei Nächten nur Gott gehören. Nach der dritten Nacht aber wollen wir als Eheleute einander gehören, denn wir sind Kinder der Heiligen und können unsere Ehe nicht beginnen wie die Menschen, die Gott nicht kennen.“ Und sie standen auf und beteten beide inständig, daß Gott sie behüten wolle.

Mit GOTT beginnen sie ihr Eheleben, und was den anderen zum Tode war, wird ihnen zu Leben.

Und der Vater der Braut muß das Grab, das er schon ausgeschaufelt hat, wieder zuschütten, weil der Tobias friedlich schlafend neben seiner Frau Sara liegt (Tobias 8, 10).

Manchmal haben wir vielleicht Schwierigkeiten, so etwas in seinem tiefen Sinn wirklich zu verstehen. Dieser Geist, der immer die frischgebackenen Ehegatten umbringt, heißt Asmodi. In dieser Geschichte wird offenbar – was ich aus dem Leben wirklich kenne –, daß körperliche Liebe immer zum Chaos offen ist.

Wieviel Gewalt geschieht in der Liebe, wieviel Verführung, wieviel Unehrlichkeit, wieviel Eigennutz, wieviel Nur-an-sich-selbst-denken. Man kann sich darüber eigentlich nur entsetzen, daß diese herrliche Sache, die Gott geschaffen hat, DER uns so geschaffen hat, daß wir zusammenpassen, daß wir eins werden – wirklich wortwörtlich –, immer wieder entstellt wird, umgeben ist von dem Höllenfeuer des Asmodi.

In der körperlichen Vereinigung bewahrt und segnet uns Gott; so wenden wir uns ganz IHM zu, daß wir auch in dieser Stunde Gott lieben mit allen Sinnen und Kräften und unseren geliebten Partner wie uns selbst.

Vom tötenden Chaos der Liebe erzählt Tolstoi (geb. 1828, gest. 1919) in der „Kreuzersonate“; er schrieb diese Novelle 1891:
Ein Mann sitzt im Zug, einem alten russischen Zug. Ihm gegenüber sitzt ein älterer Herr. Sie kommen ins Gespräch. Er sagt: „Ich muß ihnen was erzählen. Ich komme gerade aus dem Gefängnis. Ich habe meine Frau umgebracht.“ – Und dann erzählt er ganz ausführlich, wie sie geheiratet haben, das Haus gebaut und materiell alles immer perfekter wurde, wie der Geschlechtsverkehr immer der Höhepunkt sein sollte, aber eben nicht war, und sie beide letztlich auch nichts Wirkliches mehr erlebt haben.

Ich kenne auch Ehen, wo der Ehemann nach St. Pauli ging, um zu erleben, wie der perfekte Geschlechtsverkehr sei, nach dem man wirklich zufrieden ist (Satisfaction), weil es zu Hause langweilig war. Aber auch da erlebte er nicht die Herrlichkeit, von der er träumte. Ich kann mich gut erinnern. Er war ein netter Kerl, der nicht viel Geld hatte. Da hat gespart. Er sagte: „Ach, wissen Sie, Herr Doktor, das war noch nicht die Richtige. Ich muß mal mehr Geld sparen. Wenn die Dame teurer ist, dann wird die Sache schon gut werden.“ Und dann hat er schließlich gespart und kam wieder, und sagte: „Herr Doktor, alles Mist!“

Man denkt, so lange das noch knistert und halb verboten ist, ist die Sache ganz prima, da ist noch so ein Flair drin. Und trotzdem findet man nicht die erträumte Herrlichkeit.

In der Ehe, die Tolstoi beschreibt, ist die körperliche Vereinigung zur schrecklichen Routine geworden, beide sind nicht mehr glücklich dabei, aber beide treibt der Geist Asmodi, treibt das Begehren, die Appetenz einfach dazu, sich immer wieder zueinander zu legen.

Schließlich kommen sie nicht mehr zusammen.

Die Frau findet einen Klavierlehrer, der eben mit ihr die Kreuzersonate spielt, und dieser Klavierlehrer ist der, der ihr die Liebe nun noch einmal neu nahebringt. Der Ehemann kommt nach Hause und ersticht sie – aber das Gericht spricht ihn nach einer kurzen Strafe frei, weil der Richter offenbar, so Tolstoi, verstanden hat, daß er eigentlich dafür nicht verantwortlich war.

Wenn man sich diese schreckliche, wirklich ganz schreckliche Geschichte vorstellt, dann spürt man die große Wirklichkeitsnähe. Ich bin der Überzeugung, es gibt keine menschlich kluge Lösung – weder Kamasutra noch Beate Uhse.

Wenn wir uns in der Liebe Gott ganz zuwenden, verliert der „böse Geist“, das Chaos seine Macht, und wir verkosten die Herrlichkeit der Liebe. Gottes Reich wächst in dieser Welt, in uns. Es bedarf der Geduld und der Zeit, dieses Wachsen wahrzunehmen. Drei Nächte beten Tobias und Sara. Unser Leben mit Gott läßt die Saat wachsen.

So beten wir:

„Gib mir Keuschheit, Demut, Geduld und Liebe, mir, Deinem Kinde.“
(Gebet Ephraim des Syrers; in der Orthodoxen Kirche vor allem in der Fastenzeit täglich gebetet.)

Das griechische und slawische Wort, das wir mit „Keuschheit“ übersetzen, hat einen ganz anderen Sinnumfang wie heute das Wort Keuschheit in unserer Umgangssprache; „sophrosine“ / „zelomudria“ meint eine umfassende Weisheit, die unser Verhalten bestimmt (Das Lexikon schlägt als Übersetzung vor: gesunder Verstand, klare Besonnenheit, besonnene Zurückhaltung, Sittsamkeit). Diese Weite des Wortes entspricht unserem Anliegen: Liebe entfaltet sich, wenn alle Dimensionen unseres Seins und Lebens daran teilhaben.

In der Orthodoxen Kirche gibt es keine Trennung von Kirche und Welt, von heilig und profan. (profan [lateinisch »nicht geheiligt«], weltlich (Gegensatz: sakral); alltäglich.)

Gott ist Mensch geworden; ER liegt in der Krippe, ER liegt an der Brust Seiner Mutter, ER hat an allem teil, was Menschsein bedeutet. So gibt es keinen Ort und keine Zeit unseres Lebens, wo wir uns nicht Gott zuwenden können. Ganz besonders in der Liebe sind wir Gott nah, und so hören wir die Frohe Botschaft von der Hochzeit zu Kana und beten wie Tobias und Sara an unserem Ehebett.

Der Heide Ovid hat in der „ars amandi“, der Liebeskunst, etwas Einfaches und Schönes geschrieben: Die Liebenden müssen immer wie Pferde, die an einen Wagen gespannt sind, gemeinsam ziehen. Sie müssen immer aufeinander achten, ob der andere genauso schnell läuft, und langsamer oder schneller werden, damit sie immer alles gemeinsam machen.

Der kluge Römer hat das wirklich sehr klar und schön gesagt. Das bezieht sich nicht nur auf die körperliche Liebe. Es bezieht sich auf alles: daß man auf den anderen achtet. Liebe ist Gemeinschaft. Selbstsucht schwächt sie.

Es ist nicht ganz einfach, zusammen im gleichen Takt zu laufen. Auch Pferde müssen das lernen. Aber die Mühe lohnt sich.

So beten wir während des Gottesdienstes vor dem Glaubensbekenntnis: „Lasset uns einander lieben, daß wir einmütig bekennen. . .“ Aber das gehört auch zur Liebe. Lasset uns einander lieben, daß wir uns einmütig zueinander bekennen, daß die Gemeinsamkeit in uns reift und wächst.

Und noch einen letzten Gedanken, den ich auch in der Heiligen Schrift gefunden habe:

Vertrauen – Vorschußvertrauen

Matthäus 13:
24 Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte.
25 Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon.
26 Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut.
27 Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut?
28 Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, daß wir hingehen und es ausjäten?
29 Er sprach: Nein! damit ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet

Die Jünger fragen nach dem Sinn des Gleichnisses. Christus sagt, das Gleichnis handelt von Gott und der Schöpfung; Gott sieht und liebt den Weizen und ist langmütig mit dem Unkraut.

Das ist nicht einfach in der Praxis des alltäglichen Lebens. Dazu bedarf es Vertrauen, daß der andere es gut meint; dazu bedarf es Geduld und Demut; dazu dürfen wir alle Herrschsucht ablegen; dazu bedarf es Klugheit – eine der wesentlichen Tugenden der griechischen und römischen Antike; dazu bedarf es des Gebetes und des Hörens auf die leise Stimme Gottes und die leise Stimme des Herzens.

Ich erzähle drei Geschichten als Beispiele, die sich leicht vermehren lassen.

Morgens im Hotel:

Nach ruhiger Nacht komme ich morgens in die Empfangshalle und werde nicht gut behandelt, „rüde angemacht“.

Natürlich beziehe ich dieses gastunfreundliche Verhalten auf mich, den Gast, obwohl ich mir keiner Schuld bewußt bin. Ich habe nachts keinen Krach gemacht, bin auch nicht angetrunken ins Hotel gekommen. Ich werde ungerecht behandelt und bin recht ärgerlich.

Aber . . . einen Augenblick nachdenken . . . Wenn ich nicht die Ursache der Gereiztheit des Personals bin, dann ist es naheliegend und fast sicher, daß es einen Streit unter ihnen gegeben hat oder einen Anpfiff vom Chef. Ich war nur das erste Opfer dieser Gereiztheit. Nun könnte mein Ärger in Mitgefühl umschlagen, und wir würden uns gut vertragen.

Ich habe nachgedacht, und nun sehe ich – es ist doch ein nettes Hotel mit netten Leuten.

Ganz einfach. Aber in der Erregung meiner Gefühle ist es eben nicht einfach. Vertrauen, daß meine Nächsten im Hotel es gut meinen, und Nachdenken ersparen Zorn und Streit.

Vergiß das Unkraut. Halte Ausschau nach dem Weizen.

Der/die Morgenmuffel/in:

Meine Frau war die liebste und beste, aber . . . liebt sie mich noch? Morgens ist sie manchmal ganz eklig zu mir. Soll ich mir das bieten lassen?

Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus. Es gibt eine umfangreiche Rhythmusforschung, die nicht mit den Rhythmen einer Jazz-Kapelle zu tun hat, sondern den zeitgebundenen Ablauf unserer körperlichen Funktionen erforscht, z.B. Blutdruck, Blutzucker, Sauerstoffgehalt des Blutes und vieles mehr.

Blutdruck und Blutzucker haben einen 24-Stunden-Rhythmus. Beide sinken ab Mitternacht ab, um etwa ab 6.00 Uhr morgens bis 12.00 Uhr mittags wieder anzusteigen. Bei manchen Menschen ist diese Kurve sehr flach und beeinträchtigt das Wohlbefinden kaum, bei anderen ist dieser Kurvenverlauf so ausgeprägt, daß sie morgens nur unmutig und griesgrämig aus dem Bett kommen. Ihnen ist wirklich nicht gut; man könnte das messen und objektiv beweisen. Auch ich, als gelernter Arzt, habe daran nicht gedacht und Mißmut und Reizbarkeit meiner Frau auf mich bezogen. Ich kannte solche Gefühle beim Aufstehen nicht. Meine Kurve ist nicht so ausgeprägt. Ich bin wie ein Säugling, der noch keinen 24-Stunden-Rhythmus hat, oder wie ein Hund, den man zu jeder Tag- und Nachtzeit wecken kann. Da könnte man boshaft sagen: Ich bin in meiner Entwicklung eben noch etwas zurückgeblieben. Meine Frau aber hatte den ausgeprägten Rhythmus eines Erwachsenen. Das hätte ich bei meinen medizinischen Kenntnissen schon beim zweiten Mal erkennen können. Vor allem darum, weil meine Frau nach Kaffee und Zigarette wieder ein ganz anderen Mensch war – den ich liebte und der mich liebte. Es hat aber erheblich länger gedauert.

Das Vorschußvertrauen hat mir geholfen, schließlich doch den Zusammenhang zu erkennen. Nicht zu vergessen, daß der Teufel in einer solchen Lage, wo man ärgerlich und unsicher wird, einen großen Vorrat an Standard-Sätzen und -Gefühlen bereit hält, die auf Streit und Zerstörung der Ehe hin programmiert sind.

Die Statistik zeigt seine Erfolge. Darum: Nicht nur klug sein, sondern beten.

Der beleidigte Autofahrer:

Ich bin eine ausgezeichneter Autofahrer. – So schätzt sich wohl jeder ein, auch wenn er es nich sagt und betont. Meine Frau, die auch nicht schlecht fuhr, legte sich eine Gewohnheit zu, die mir sehr auf die Nerven ging: Wir waren noch keine 10 Minuten gefahren – ich am Steuer –, da hatte meine Frau an meiner Fahrweise zu kritisieren. Das war „unberechtigt“ und tat mir weh. Ich war erst einmal eingeschnappt, und es brauchte einige Zeit, bis wir wieder entspannt nebeneinander saßen.

Eine von den vielen Kleinigkeiten, die eigentlich ganz unwichtig sind, die uns aber ganz wichtig werden.

Es hat lange – Jahre (!) – gedauert, bis ich begriffen habe, was vor sich ging. Einmal, leider erst recht spät, sah ich meine Frau an, wie sie ihre Kritik äußerte, und sah, wie sie beim Reden lächelte. Da ging mir ein Licht auf. Sie meint das wohl gar nicht ernst. Vielleicht ist es nur ein Spiel? Das hat wohl gar nichts mit einer Abwertung meiner Person oder meiner Fahrkünste zu tun?

Mein Vorschußvertrauen und Gottes Hilfe öffnete mir endlich die Augen. Es war offenbar keine „ernst gemeinte“ Kritik, sondern ein kleines neckisches Spiel, eine Morgen-Zeremonie zur Belebung der Gemeinschaft.

Wie sehr freut sich der Verliebte an kleinen neckischen Spielen – später aber findet man sie gar nicht mehr lustig . . .

. . . bis ich erkannt hatte – zuerst mit dem Verstand und dann mit dem Herzen –, daß es ein freundliches Spiel der Verliebten war und weder ernst noch bös gemeint.

Diese Geschichte kann man erklären, sich erklären. Aber es ist sehr viel schwerer als bei den ersten beiden Geschichten, wo die Erklärung sachlich, wissenschaftlich und handfest ist.

Und der Teufel schläft nicht, weil er immer hofft, uns durch unsere Eitelkeit und Selbstüberschätzung zu Fall – hier: zum Streit – zu bringen.

So flüstert der Teufel: „Deine Geliebte? Nun siehst du es ja: ein boshaftes, herzloses Weib!“

Ich habe mich gewundert, daß ich bei Ehestreit und bei Ehescheidungen immer wieder die gleichen Standardsätze gehört habe. Und so denke ich, daß er Teufel hier der Dichter dieser Sätze ist.

Vor Demut und Gebet ist der Teufel machtlos.

Von der Demut des Einsiedlers:

1. Petrus 5:
8 Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.
9 Dem widersteht, fest im Glauben.

„Den Geist der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe gib mir, Deinem Kinde.“ (Ephraim der Syrer; geboren 306 in Nisibis, gest. 373 in Edessa; Diakon der syrischen Kirche)

Ein Einsiedler lebte in einer kleinen Holzhütte in der Tiefe des russischen Waldes. Er hatte sich die Worte des Herrn: „Solche Art fährt nur aus durch Beten und Fasten“ (Matthäus 17, 21) zur Richtschnur seines Lebens gemacht. Im Gebet verbrachte er in tiefer Ruhe seiner Seele die Tage, und was er aß, waren nur Beeren des Waldes und Kräutersuppe, die fast nur aus heißem Wasser bestand. Dem Teufel war er ein großer Dorn im Auge, und schließlich kam ein zäher und einfallsreicher Teufel zu dem Einsiedler, ihn zum Zorn zu reizen.

Früh stand der Einsiedler auf und wollte einen dünnen Tee kochen, aber alles Holz war naß, obwohl es lange nicht geregnet hatte. Es geht auch ohne Tee, sagte sich der Alte und ging in den Wald, Zweige zu sammeln, aus denen er Körbe flocht.

Wo keine Wurzeln mit einem Mal im Weg lagen, über die der Einsiedler stolperte und zwischen die Dornen fiel, taten sich Schlammlöcher auf, aus denen er nur mit Mühe und beschmutzt und durchnäßt wieder herauskam.

So verging der Tag. Ein Mißgeschick nach dem anderen. Keine fünf brauchbaren Zweige brachte er mit zu seiner Hütte. Müde war er und sehnte sich nur nach dem harten Bett und ein wenig Schlaf. Als er in die Hütte kam, lag der Teufel dick und borstig auf seinem Bett. Der Einsiedler sah ihn fast liebvoll an und sagte: „Du mußt wirklich müde sein nach all den Mühen, die du mit mir hattest. Ruh dich aus, bleib auf meinem Bett. Ich schlafe auf der Erde.“

Das nun war zuviel für den Teufel, und er fuhr schnurstracks zurück in die Hölle.

Blicken wir auf den Weizen und seien wir geduldig und demütig wie der Einsiedler mit dem Umkraut. Nicht wir – die heiligen Engel werden das Unkraut sammeln. Wir dürfen unsere ganze Kraft, Klugheit und Phantasie nutzen, in der Liebe in unserem Gegenüber den Weizen zu entdecken. Unser Vertrauen, daß wir miteinander in Frieden leben, daß der Weizen, und wenn er noch so klein ist, unser gemeinsames Leben bestimmt, ist der Weg, auf dem wir immer neu der Herrlichkeit der Liebe begegnen.

Mit dem letzten Vers des Gebetes Ephraim des Syrers schließen wir unsere Gedanken und vertrauen uns ganz dem Herrn an, Jesus Christus in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Heiligen Geiste:

O Herr, König, gib mir Erkenntnis meiner Sünden
und laß mich nicht meinen Bruder richten,
denn DU bist hochgelobt in die Ewigkeiten der Ewigkeiten.
Amen!


[1] androgyn = männliche und weibliche Merkmale aufweisend, vereinigend.

(Herr Eberhard Backhaus, Berlin, hat freundlicherweise diese schriftliche Fassung erstellt und um einige Erläuterungen ergänzt.)

Weitere Vorträge:

www.hamburg-hram.de
A.Backhaus, Vom Geist der Demut, der Geduld und der Liebe; Kath.Akad. Hamburg 2006
(am Kerzenstand erhältlich)

Dr. A. Backhaus: Vortrag am 15.Dezember 1995 im Orthodoxen Bildungszentrum Berlin

Verstand und Gebet

Bevor wir das Problem des Denkens, Glaubens und Betens betrachten, möchte ich zunächst zwei Geschichten erzählen, beide sollen wahr sein:
Die erste Geschichte von einem kleinen Jungen, der in den Alpen aufwuchs und für unsere Begriffe wohl ein Debiler, wenn nicht ein Idiot war. Also jemand der nicht klar denken konnte. Der Pfarrer des Ortes versuchte ihm den Glauben beizubringen, und da er das nicht so richtig verstand, zeigte er ihm das an der Hand und sagte: ICH bin der HERR Dein GOTT.
Das mußte der kleine Junge lernen. Und er saß dann auch häufig da, wenn er nachdachte oder spielte, und dann nahm er seine Hand: ICH bin der HERR Dein GOTT. Eines Tages stürzte dieser Junge ab, und wurde tot gefunden zwischen den Felsen und hatte den Finger mit der anderen Hand erfaßt, der für GOTT steht, so daß er offensichtlich, wenn man an Zeichen etwas erkennen kann, das Wesentliche des Glaubens begriffen hatte.

"ICH bin der HERR Dein GOTT."

Im Augenblick seines Todes, wo ja wohl die geistige Beschränkung aufhört, hat er diesen Finger ergriffen. Das zeigt offenbar, daß das, was wir denken nennen, das heißt logisches, diskursives, abstraktes Denken, für den Glauben völlig "unnötig" ist.

Ein Freund aus Japan erzählte mir, wie ein Franziskaner, der dort die Japaner zu missionieren versuchte, als junger Mönch nach Japan kam und dort, schlecht japanisch sprechend, aus seinem Katechismus den interessierten und neugierigen Japanern den katholischen Glauben vorlas. Die waren so begeistert, daß sie alle katholische Christen wurden. Viele, viele Jahre später, als er nun wirklich japanisch konnte, begann er mit denselben Menschen vom Glauben zu sprechen. Und die fielen von einem Erstaunen ins Andere, und sagten: so herrlich ist der Glaube. Was ist das für eine Sache, was ist das für eine großartige Sache! Und da sagte der Mönch: ich habe Euch das doch alles schon vorgelesen. Ja, sagten die höflichen Japaner, wir haben kein Wort verstanden, was Du da gesprochen hast, war für uns unverständlich. Aber Dein begeistertes Gesicht, das hat uns überzeugt. Aber als sie dann verstanden, was mit dem Glauben ist, da waren sie davon ganz begeistert.

Der Glaube wird schöner, genauer, herrlicher, wenn man ihn eben auch mit dem Verstande ergreift.

Ich will jetzt an zwei Punkten eigentlich diese Verbindung von unmittelbarer Begegnung, Beten und Denken mit Ihnen besprechen.

Einmal angesichts der Eucharistie, angesichts des Empfanges des Heiligen Abendmahls, was ja grundsätzlich und von Anfang an über unser Verstehen hinausgeht. Und was doch, wie ja gerade die Geschichte der Kirche zeigt, immer wieder zu sehr subtilen und sehr präzisen Denkansätzen und Denkversuchen geführt hat, sogar dazu geführt hat, daß Calvin auf der einen Seite, Luther auf der anderen Seite, und die katholische Kirche mit der Realpräsenz, sich um der rationalen im Denken ergriffenen Wirklichkeit des Heiligen Abendmahls so zerstritten haben, daß daraus verschiedene Kirchen wurden.

Und das zweite Thema ist der Tod. Mit dem geht es uns ja auch so. Wir wissen alle, daß wir sterben müssen, und ab und zu beschäftigen wir uns auch damit, manche bereiten auch schon ihre Beerdigungszeremonie vor und haben schon einen Stein machen lassen oder haben schon irgendwo ein Stück Erde dafür gekauft, andere Völker tun das, viel intensiver als wir, und trotzdem ist der Tod etwas, was mit unserem Verstand und mit unserem Denken nicht ganz zu durchdringen ist. Und auch hier meine ich, daß die Einheit von Gebet und Denken von Glauben und Nachsinnen uns eine ganz neue Welt und Wirklichkeit eröffnet.

Beide Gebetsformen, die Vorbereitung auf das Heilige Abendmahl, und das Gedenken oder das gemeinsame Gebet mit den Entschlafenen ist für den orthodoxen Christen eines der häufigsten Gebete.

Ich habe mal versucht, auszurechnen - ich bin 1950 zum Priester geweiht worden - und selbst wenn ich nur zweiundfünfzig Mal im Jahr die göttliche Liturgie gefeiert habe, jedesmal die Gebete gelesen habe, kann man sich ausrechnen, daß das ziemlich häufig ist, etwa zweitausenddreihundertundvierzig mal.

Und immer wieder, wenn ich die Gebete neu lese, bin ich erstaunt, was alles darin steht, daß ich offenbar in diesen fast fünfzig Jahren, in diesen vielen Tausend mal, wo ich die Gebete gelesen habe, die Gebete doch noch nicht ganz begriffen und ergriffen habe.

Als ich zum Priester geweiht wurde, am Karfreitag, gleichzeitig Mariä Verkündigung, das fiel damals zusammen, kam nach dem Gottesdienst der alte Vater Stephan Lyaschewski zu mir und sagte: Komm, gehe noch nicht weg, wir müssen jetzt eine Panichida halten, so nennen die Orthodoxen das Gebet mit und für die Entschlafenen.

Panichida - vom griechischen Wort: die ganze Nacht, bezeichnet bei den Russen einen Gebetsgottesdienst in Erinnerung der und zur Gemeinschaft mit den Entschlafenen. Der Gottesdienst entspricht der Form der Beerdigung, ist aber verkürzt. (Lesungen aus der Heiligen Schrift, manche Gesänge werden ausgelassen.) Die Form des Beerdigungsgottesdienstes entspricht der Struktur des Morgengottesdienstes, des Orthros.

In der Karwoche feiert die Kirche am Karfreitag mit einem solchen Orthros die Grablegung Christi. So ist die Grablegung des Christen vorgebildet in der Grablegung Christi, wie es sich auch in der Form des Ritus ausdrückt.

Das Totengedenken, die Panichida, wird am Todestag, am 3., am 9., am 40.Tag, auch am Namenstag oder Geburtstag des Verstorbenen gefeiert. Die Sonnabende der Fastenzeit sind Tage, an denen in besonderer Weise der Entschlafenen gedacht wird.

Und Vater Stephan sagte: Dies ist das aller Wichtigste, das wirst Du in Deinem Leben am aller-häufigsten beten und singen müssen. Und er hatte völlig recht. Ich kann die wenigen Gottesdienste in Lübeck oder Hamburg oder Schleswig oder Berlin zählen, bei denen nicht nach dem Gottesdienst noch jemand kommt, und um ein solches Gebet bittet. Offenbar sind diese beiden Gebetsformen den orthodoxen Christen außerordentlich vertraut.

In den Gebeten vor der Kommunion [1] heißt es in einem Lied: "Nun heilige in mir, Erlöser, den Geist, die Seele, das Herz und auch den Leib, und mache mich würdig, mein Gebieter, Deinen furchtbaren Geheimnissen unverurteilt zu nahen." (6.Ode, 1.Vers, Seite 158)

Diese Gebete bestehen einmal aus einem sogenannten Canon, der mit einem einleitenden Lied, einer Ode, beginnt der in der Regel vier Verse folgen. Zwischendurch werden Verse aus dem fünfzigsten (einundfünfzigsten) Psalm (50/1,12+13) gebetet. darauf folgen 12 Gebete und kurze Verse.

Aber wenn man nun anfängt, darüber nachzudenken, oder wenn man die Gebete immer wieder betet und liest, dann wird einem erst offenbar, das dieser ganz einfache Text eigentlich alles enthält:

Nun heilige in mir Erlöser,
den Geist und die Seele,
das Herz und auch den Leib.

Die Ganzheit des Menschen, der Leib und Seele, Geist und Verstand, viele Dinge in sich trägt, wird hier in diesem Gebet in einer sehr einfachen, aber auch sehr eindrucksvollen Weise ausgesagt. Das ist für meine persönliche Erfahrung sehr viel besser und eindrucksvoller, als viele philosophische und theologische Diskussionen, über die Drei-geteilt-heit des Menschen, Geist, Seele und Leib; die zwei-geteilt-heit des Menschen, oder wie man das auch immer im Einzelnen beschreiben wird. (Siehe: Dichtomismus, Trichotomismus z.B. kleines theologisches Wörterbuch, Herder, 108/9)

Wenn ich mich betend, aber auch nachdenkend, den unbegreiflichen und doch zu ergreifenden Geheimnissen GOTTES nahe, dann wird mir erst deutlich, was sich im Mysterium, im Sakrament ereignet und geschieht. Und dann wird gleichzeitig diese Einsicht, diese Begegnung aus meinem eigenen Sein, aus Geist, Seele, Herz, Leib zu dem Ausgangspunkt meiner Hinwendung zu Gott: "Mache mich würdig, mein Gebieter, Deinen furchtbaren Geheimnissen unverurteilt zu nahen." (6.Ode, 1.Vers,S.158)

Wenn ich so an Predigten und Gespräche denke, dann ist gerade dieses Wort von den "furchtbaren" Geheimnissen ein Anlaß zu Fragen und Zweifel.

Nicht erst der moderne Mensch, aber auch der moderne Mensch meint, daß er nicht in Furcht und Zittern vor Gott stehe, er sei erwachsen. Als erwachsener Mensch ist das ein etwas kindliches, unwürdiges Gefühl: Furcht und Zittern. Wollen wir davon noch reden?

Aber das Erstaunliche ist, daß, wenn wir uns einer wesentlichen Entscheidung unseres Leben gegenüberstehen, daß, wenn wir ein Bewerbungsgespräch geführt haben und darauf warten, ob wir vielleicht die Stelle bekommen, daß wir eben dann, Furcht und Zittern sehr deutlich verspüren.

Ist die Begegnung mit GOTT offensichtlich nicht weit wichtiger, als die Frage, ob wir die Stellung, um die wir uns beworben haben, bekommen werden? Darum dürfen wir natürlich in der Begegnung mit GOTT, wie die Gebete sehr deutlich sagen, erschauern vor dem furchtbaren Geheimnis, daß GOTT uns entgegen kommt.

Die vierte Ode: (S.156):

Du kamst aus der Jungfrau
Nicht ein Vermittler [2]
Auch nicht ein Engel
Sondern, Du selbst, o HERR
hast Dich verkörpert
und erlöst den ganzen Menschen, mich
Darum rufe ich zu Dir
Ehre sei HERR DEINER MACHT

Sie wissen wahrscheinlich, daß die Slawenapostel Methodius und Kyrill, aber auch ihre Nachfolger, die griechischen Texte in einer solchen Präzision oder in einer solchen einfachen Weise übersetzt haben, daß man aus dem ursprünglichen slawischen Text ohne Schwierigkeiten auf den griechischen rückschließen kann, aber gerade deshalb ist es manchmal außerordentlich schwierig zu erkennen, was für ein deutsches Wort dem ursprünglich entspricht. Du kamst aus der Jungfrau, nicht ein Vermittler. Offenbar jemand, der für einen anderen vermittelt.

Und selbst wenn in den nicht-christlichen Religionen Gott Mensch wird, ob das nun Zeus oder Jupiter ist, so nur vorübergehend. Heidnische Götter legen nur mal das Gewand eines Menschen an, um es später wieder abzulegen, und in den göttlichen Raum, den "Olymp", wieder zurück zu kehren.

Und in diesem Vers ist alles enthalten, was die Einmaligkeit des Christentums ausmacht. Wir haben nicht sehr viel vorzuweisen als Christen, als besonders wichtige und wertvolle Eigentümlichkeit unseres Christlichen Lebens, wir sind nicht klüger, wir sind nicht besser, wir vertragen uns nicht besser als andere, aber das GOTT DER HERR nicht als ein Vermittler, nicht als ein Engel, sondern selbst zu uns gekommen und Mensch geworden ist und bleibt, ist völlig unabhängig von der Frage, ob wir das glauben, oder für richtig halten, eine einmalige, im Denken der Menschen niemals wiederholte Verkündigung, die uns nur von Christus gesagt ist.

Sondern Du selbst o HERR hast DICH verkörpert
und erlöst den ganzen Menschen, mich.

Hier taucht wieder der ganze Mensch auf, (wßego mja tscheloweka), Christus erlöst den ganzen Menschen, eben nicht nur meine Seele, nicht nur meinen Leib, nicht nur mein Denken, nicht nur mein Ich, oder wie man das immer bezeichnen mag, sondern die ganze Fülle meines Daseins.

Darum rufe ich zu Dir, o HERR:
Ehre sei Dir

Jetzt ein Text aus dem Theotokion, das Maria, die Mutter des Herrn als Gottesgebärerin bekennt, als Theotokos: (THEO=GOTT, tokos-die Erzeugung, das Gebären, die Geburt) Bekenntnis des gemeinsamen Konzils der ganzen Kirche zu Ephesus 431. Jedes Lied: Ode und vier Verse schließt mit einem Vers auf die Gottesgebärerin, der das Geheimnis immer neu beschreibt, daß Gott aus Maria wahrer Mensch geworden ist, DER von Ewigkeit zu Ewigkeit wahrer Gott ist. So gedenkt die Kirche in diesem Vers der Mutter unseres HERRN JESUS CHRISTUS, der Jungfrau Maria, weil, und ich meine, das ist auch präzise logisches Denken, nur in der Betrachtung und dem Nachsinnen über das unbegreifliche Geheimnis, daß Gott aus einer Frau Mensch geworden ist, die Wirklichkeit der Menschwerdung überhaupt erahnbar wird:

Maria, Mutter Gottes
ehrbares Gefäß duftenden Wohlgeruches
laß mich doch durch Deine Gebete
zum Gefäß der Auserwählung werden
und an den Weihen Deines Sohnes teilhaben.
(5.Lied, Theotokion, S.157)

Es ist interessant, daß die alten Sprachen hier einen feinen Unterschied machen, der im Deutschen vielleicht gar nicht so wiederzugeben ist: ehrbares Gefäß - Selénii - auf slawisch, das heißt eigentlich: "Wohnsitz" duftenden Wohlgeruches. Raum, der GOTT umschlossen hat.

Laß mich durch Deine Gebete zum Gefäß: - soßud - eben praktisch wirklich einfach zum "Gefäß", zum Raum Deiner Auswerwählung, zum Raum in den Du eintrittst, werden.

Und zugleich zeigt dieser Text wiederum etwas von der Theologie der Gottesgebärerin und Mutter des HERRN JESUS CHRISTUS: daß sie immer die ist, die uns zwar voran geht, der wir nachfolgen, auch wir werden, im Empfang des Heiligen Abendmahls zum Raum, zum Gefäß, in dem Gott gegenwärtig ist.

Die orthodoxe Kirche zeichnet sich meiner Meinung nach dadurch aus, daß sie am häufigsten und am meisten um die Erleuchtung des Verstandes betet.

Die orthodoxe Kirche ist erfüllt von einer Weite, die alle Dimensionen menschlicher Existenz umfaßt: Erlöse mich, den ganzen Menschen. Und als, ich meine, Athanasius von Alexandrien gefragt wurde, wie sich der Glaube vom Wissen unterscheidet, hat er geantwortet: Im Wissen ergreifen wir die Welt durch Denken und Beobachten um sie uns handhabbar zu machen. Im Glauben ergreifen wir die Wirklichkeit GOTTES, die Welt als Schöpfung GOTTES, durch Denken, Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Handeln, Mit-Handeln, durch die ganze Weite unserer Existenz. Und darum ist es sehr verständlich, daß es zum Gebet, zur Bitte an GOTT gehört, daß er unseren Verstand erleuchtet. "Erleuchte meinen Verstand und mein Herz," betet jeder orthodoxe Christ beim Morgengebet.

Vom Schlaf und Lager hast DU mich aufgerichtet
HERR, erleuchte meinen Verstand und mein Herz
und öffne meine Lippen, damit ich DICH preise
Heilige Dreifaltigkeit
Heilig, Heilig, Heilig, bis DU, o GOTT
erbarme Dich unser um der Gottesgebärerin
(Aus Morgentroparion zur Heiligen Dreifaltigkeit Seite 8/9)

Und in dem zweiten Gebet, zur Vorbereitung auf das Heilige Abendmahl, beten wir um die Erleuchtung und Heiligung des Verstandes:

Ihr Gläubigen
lasset uns für die Katechumenen [3]
beten, daß der Herr sich ihrer erbarme
Daß ER sie lehre das Wort der Wahrheit
Daß ER ihnen offenbare
das Evangelium der Gerechtigkeit
(Göttliche Liturgie, Gebet für die Katechumenen, S.72)

und um die Erneuerung des Herzens. Auch im Gebet für die Katechumenen, für die Ungetauften, bittet die Kirche immer wieder darum, daß das Wort der Wahrheit sie lehre, daß ihnen offenbar werde das Evangelium der Gerechtigkeit.

Nach dem Empfang des Heiligen Abendmahls beten wir mit dem Heiligen Simeon Metaphrastos im dritten Gebet, daß durch den Empfang des heiligen Abendmahls die Fünfzahl (pjateriza) meiner Sinne erleuchtet werde möge. (S.189)

Ich erinnere mich an eine Schwierigkeit, die ich als junger orthodoxer Priester hatte: Es wird da gebetet für die Unwissenheit des Volkes.

In der orthodoxen Liturgie betet der Priester während der Ektenie, der Litanei für die Unwissenheit des Volkes:

"nimm an das Gebet von uns Sündern
und lasse es gelangen
zu Deinem Heiligen Altar
und befähige uns
Dir Gaben und geistliche Opfer
darzubringen für unsere Sünden
und für die Unwissenheit des Volkes
(Gebet zur Ektenie nach dem Cherubimlied.)

Mir gefiel das eigentlich nicht so recht, und ich kam mir eingebildet und hochmütig vor, daß ich nun als junger Priester, da am Altar stehend, für die Unwissenheit des Volkes betete.

Und mir ist klar geworden, wie sinnvoll und heilsam diese Bitte ist: an einer ganz anderen Fragestellung: möchte ich nicht, daß man für meine Unwissenheit betet? Und nachdem ich diesen Gedanken so formuliert oder so begriffen hatte, habe ich erst begriffen, natürlich möchte ich, daß man für meine Unwissenheit betet, nicht nur vor einer Prüfung, die ich bestehen möchte, sondern jeden Tag.

Zur Erkenntnis des Evangeliums gehört das Gebet, in allen Kirchen, in den lutherischen Ausgaben der Bibel stehen am Anfang in der Regel Sätze von Luther oder von dem Herausgeber, die sagen, im Gebet muß man dieses Wort Gottes lesen.

"Da muß nun das Gebet das erste sein, und ein Einfältiger auf diese oder dergleichen Art und Weise, ehe er die Bibel lieset, Gott anreden, nicht mit dem Mund allein: SONDERN MIT RECHT ANDÄCHTIGEM HERZEN:

"O DU ewiger und lebendiger Gott, wie können wir DIR genugsam danken, daß DU uns Deinen heiligen Willen in Deinem Wort so gnädiglich offenbart hast, daß wir daraus lernen können, wie wir gläubig, fromm und selig werden sollen. So gib mir nun Deinen heiligen Geist, daß ER mir die Augen öffne, zu sehen die Wunder an Deinem Gesetz, daß ER durch Dein Wort den Glauben in meinem Herzen mehre, und meinen Willen kräftiglich lenke, daß ich mich freue über Deine Zeugnisse und von Herzen an Dich glaube und Wort halte."
(August Herrmann Franckes kurzer Unterricht, wie man die Heilige Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle; Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift, Dresden, Sächsische Haupt-Bibel-Gesellschaft, Anhang, Seite 69)
(IN der Einheitsübersetzung, 1980, ISBN 3-460-31941-0 fehlt ein Wort vom Gebet beim Lesen der Heiligen Schrift)

In der Göttlichen Liturgie betet die orthodoxe Kirche vor der Lesung des Evangeliums:

Laß leuchten in unserem Herzen, menschenliebender Gebieter, das lautere Licht Deiner Gotteserkenntnis und öffne die Augen unseres Verstandes dem Verständnis der Verkündigung Deines Evangeliums.
Lege in uns die Furcht Deinen seligen Gebote, damit wir, nachdem wir die Begierden des Fleisches überwunden haben, zu einem geistlichen Wandel gelangen und alles nach Deinem Wohlgefallen sinnen und tun. denn Du bist die Erleuchtung unserer Seelen und Leiber, o Christe, Gott, und Dir bringen wir Ehre dar bei Deinem anfangslosen Vater, dem allheiligen und guten und lebendig machenden Geiste, jetzt und immerdar und in die Ewigkeit der Ewigkeiten. Amen.

(Gebet vor der Lesung des heiligen Evangeliums: Göttliche Liturgie des Hl.Johannes Chrysosomos/d.Hl.Basiliusd. Großen)

In der Vorbereitung auf das Hören des Worts Gottes ist das Gebet und die Reinigung des Herzens die Grundlage aus dem Evangelium die Stimme des Herrn zu hören, DER zu uns spricht. Zugleich, im gleichen Atemzug ist unser Verstand aufgerufen, des Wortes Weite, Tiefe, Sinn und Zusammenhänge zu begreifen. Vielleicht ärgert sich der Verstand über die Worte: "nachdem wir die Begierden des Fleisches überwunden haben", aber gerade unsere moderne Einsicht in die vielfältigen Zusammenhänge des Erkennens bestätigen, daß die Atmosphäre in der der Verstand nach Wahrheit und Erkenntnis sucht, für das Ergebnis wesentlich ist.

In den Seligpreisungen heißt es ja:

"Selig sind die reinen Herzens sind,
sie werden GOTT schauen." [4]

Wenn ich das ernsthaft betrachte, spüre oder erkenne ich, weiß ich und sehe, daß die Schwierigkeiten GOTT zu erkennen und an GOTT zu glauben oder GOTT zu lieben, nicht darin liegen, daß wir nicht intelligent genug sind, sondern, daß die Verdüsterung unseres Herzens, die Unordnung in unserem Herzen uns daran hindert, GOTT zu erkennen. Deshalb müssen wir "die Begierden überwinden". Wir müssen in unserer eigenen Welt, in unserem eigenen Leben eine richtige, zuverlässige, auf GOTT gerichtete Hierarchie der Werte herstellen [5] .

Aber es gibt viele solcher seltsamen Worte. In den Gebeten vor dem Abendmahl zitiert der Beter den heiligen Apostel Paulus, 1.Thimoteus 1,15:

Ich glaube und bekenne, daß dies ist wahrhaftig
CHRISTUS der SOHN GOTTES,
der in die Welt gekommen ist,
die Sünder zu erretten,
deren ich der Erste bin.

Auch ein sehr seltsamer und auch etwas anstößiger Satz. Natürlich bin ich ein großer Sünder. Das sage ich ja immer wieder, ich weiß es eigentlich nicht, ich glaube es auch nicht richtig. Aber es wird immer wieder gesagt, daß ich ein großer Sünder sei, aber daß ich nun gleich der Erste sein sollte?

Ich glaube der heilige Apostel Paulus meint: der Erste bei GOTT. Nicht der erste Sünder in der Hierarchie der Sünder, sondern: protos eimi ego - primus ego sum, das ist griechisch bzw. lateinisch, und sehr schön: der erste bei Gott. Das ist das Geheimnis des Heiligen Abendmahls: die heilige Kirche ist nichts anders als die Gemeinschaft der Menschen, die GOTT, den Unsichtbaren, der Mensch geworden ist, in sichtbarer Gestalt in seinem Wort, in der Verkündung des Evangeliums, im Heiligen Abendmahl in Seinem Leib und Blut herbeiträgt, so daß jeder der Erste ist. Wenn ich auf den Kelch zugehe und den Leib und das Blut des HERRN JESUS CHRISTUS empfange, bin ich der Erste. Zwischen mir und dem Kelch ist nichts und niemand mehr. Und eben gerade dieses Erstaunen und dieses vielleicht umständliche Überlegen, was eigentlich der Heilige Apostel Paulus hier meint, führt, mich jedenfalls, aber auch die Väter, die darüber genau so berichten, zu der Erkenntnis, daß er hier etwas ganz Wesentliches sagt. Das Großartige der Menschwerdung Gottes ist, daß ich der Erste bei Ihm bin, daß niemand mehr dazwischen ist, sondern, daß, wenn ich auf ihn zugehe, meine Hände oder meine Lippen unmittelbar nur IHN berühren und nichts mehr zwischen Gott und mir ist, bis in die leibliche Wirklichkeit.

In den Gebeten vor dem Abendmahl kommt immer wieder das hochzeitliche Gewand vor. Ich weiß nicht, ob Sie sich auch über das Gleichnis mit dem hochzeitlichen Gewand / [6] geärgert haben. Das ist wieder so ein Gleichnis des HERRN JESUS CHRISTUS, mit dem ich nicht so leicht einverstanden bin. Da sind die Leute von den Straßen und Hecken herbeigeholt, weil die richtigen Gäste nicht gekommen sind. Die sitzen jetzt alle am großen Tisch beim Hochzeitsmahle des Königs, und der König geht dadurch und plötzlich sieht er einen, der hat kein hochzeitliches Gewand an "und sprach zu ihm: Freund, wie bist Du hier hereingekommen und hast kein hochzeitliches Gewand an?" ER aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: "Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus. Da wird sein Heulen und Zähneklappen." (Matth.22,12-13) Was kann der arme Kerl dafür? Wenn er von den Hecken und Straßen hereingeholt wird, er konnte ja gar nicht mehr nach Hause.

Hier ist nun allerdings einfach die historische Wirklichkeit die zutreffende Antwort. In den Hochzeitsfeiern, das kennen wir auch aus dem Alten Testament, natürlich, Israels, aber überhaupt des ganzen Orients, bekam jeder Gast ein hochzeitliches Gewand an der Tür. Es war das Geschenk des Hausvaters, daß ihn würdig machte, an dem Abend Mahl, an der Feier teilzunehmen. Wir kennen das heute nur noch zu Silvester, wenn wir zur Silvesterfeier kommen, bekommt jeder zum Beispiel ein Hütchen auf. Das ist eine späte Erinnerung an einen alten Brauch.

Gewänder spielen auch in der damaligen Welt eine große Rolle; sie sind oft Zeichen der Ehrerbietung, oft Ehrengeschenke. Naeman, der Feldhauptmann des Königs von Damaskus, vom Aussatz befallen, kommt zum Propheten Elisa, sucht bei ihm Heilung. Sein Herr gibt ihm Geld und zehn Festkleider [7] als Geschenk mit. Das Gewand wird zum Ausdruck des eigenen Wesens, der Würdigkeit. Gott macht Adam und Eva, von der Sünde entstellt, Kleider [8] . Priester des Alten Bundes legen liturgische Gewänder an, wenn sie dem Herrn dienen, das Gewand wird zum Zeichen der Würdigkeit [9] . Der orthodoxe Priester erlebt beim Anlegen der liturgischen Gewänder, daß es nicht seine Fähigkeit und Würde ist, die ihn zum Dienst am Altar, zur Verkündigung des Wortes ruft, sondern Gottes Gnade, die im Gewand zeichenhaft, spürbare Gestalt annimmt.

"reinige meine Seele und mein Herz vom bösen Gewissen und befähige mich, den DU mit der Gnade des Priestertums bekleidet hast, durch die Kraft Deines Heiligen Geistes, vor diesem Deinem heiligen Tisch zu stehen und heilig zu handeln an Deinem heiligen und allreinen Leib und Deinem kostbaren Blut" (Gebet vor dem großen Einzug, göttliche Liturgie)

"Meine Seele freut sich im Herrn, denn ER hat mich bekleidet mit dem Gewand des Heils und mich umhüllt mit dem Kleid der Freude..." (Gebet beim Anlegen des Sticharon, Untergwand; Jesaja 61,10).

Jedenfalls dieser Mann hat kein schlechtes Gewand an, sondern, es war ein eingebildeter Bursche, der sein Gewand für besser hielt, dem das Gewand nicht gefiel, das der Hausvater ihm an der Tür anbot. Er hielt seinen eleganten modernen Smoking für sehr viel besser, als dieses altertümliche Gewand, das er da bekommen hatte. Deshalb ist der Herr, berechtigter und verständlicher Weise, so zornig [10] .

Und deshalb sagen immer wieder die Gebete: HERR, gib mir das hochzeitliche Gewand, daß ich würdig werde, an DEINEM heiligen Abendmahl teilzunehmen. So bekennen wir in diesem Gebet immer wieder, daß wir darauf angewiesen sind, daß der Hausvater, der HERR JESUS CHRISTUS, uns würdig macht, uns dieses Gewand gibt, uns überkleidet [11] .

"Wie soll ich Unwürdiger in den Glanz Deines Heiligtums eintreten? Denn, wenn ich wagte, in das Brautgemach einzutreten, wird das Gewand mir zum Vorwurf gereichen, weil es nicht hochzeitlich ist, und gefesselt werde ich hinausgeworfen von den Engeln: Tilge o Herr, den Makel meiner Seele und erlöse mich!" (Tropar vor dem Empfang des heiligen Abendmahls, Seite 158/6)

Es gibt eine Dynamik, die auch in den Gebeten immer wieder vorkommt, ich meine eine Dynamik, die durch die gesamte Heilige Schrift hindurch geht, und die uns deutlich macht, daß wir auf einem Wege sind, der noch nicht abgeschlossen ist, von dessen fernem Ziel wir aber etwas ahnen.

Der Dornbusch kommt immer wieder vor, der Dornbusch, den Moses in der Wüste sieht, der Dornbusch, der brannte und nicht verbrannte, und als Moses herankommt, hört er eine Stimme, die Stimme GOTTES. DER sagt: "Das ist heiliger Boden, zieh Deine Schuhe aus" [12] , und GOTT redet aus dem Dornbusch mit Moses.

Das Problem dieses Dornbusches ist nicht so einfach zu lösen, wie das gerne versucht wird. In der gemeinsamen Bibelübersetzung der evangelischen und katholischen Kirche steht in der Fußnote, das war wohl ein Elmsfeuer [13] . Ein Elsmfeuer kommt in der Wüste nicht vor.

Andere meinen, es wäre ganz natürlich, daß in der großen Hitze der Wüste mal ein Dornbusch anfängt zu brennen, nur dann verbrennt er eben auch. Dieser Dornbusch ist etwas Ungewöhnliches: ist Gottes Gegenwart, und weist auf etwas hin, was für unser alltägliches Leben eine entscheidende Rolle spielt: Unser GOTT ist ein GOTT der Wunder tut.

Besonders an großen Feiertagen, sehr eindrucksvoll am Ostersonntag beim Abendgottesdienst wird aus der Mitte der Kirche heraus das große Prokimen gesungen,

Wer ist der große GOTT
wie unser GOTT
DU bist ein GOTT der Wunder tut!

Der Chor wiederholt den Vers. Auch an anderen Feiertagen steht dieses Prokimenon, dieser kurze Vers aus dem siebenundsiebzigsten Psalm, im Mittelpunkt der Verkündigung. Es ist etwas anderes, ob wir unseren GOTT besingen als einen GOTT der Wunder tut, oder ob wir über die Frage des Wunders und der Allmacht Gottes diskutieren. Unser GOTT ist ein GOTT der Wunder tut. Eine tägliche Erfahrung. Wenn wir auch oft nicht bemerken, wie GOTT DER HERR mit uns umgeht. Darum danken wir auch in dem Gebet der göttlichen Liturgie GOTT für alle Wohltaten, für alles, das ER für uns getan hat, für alles, was wir bemerkt haben, vor allen Dingen auch, was wir nicht bemerkt haben.

GOTT ist ein großer GOTT, unser GOTT ist der GOTT, der Wunder tut.

Der brennende Dornbusch, das Blut des Passa-Lammes [14] ist ein Vorbild, wie Meliton von Sardes [15] , (gestorben 180) in seiner Osterpredigt sehr deutlich gesagt hat, ein Vorbild kommender dynamischer Wirklichkeit.

Das Mysterium des Passa - Osterpredigt, 3.Vers

"Alt nach dem Gesetz
neu nach dem Wort
augenblickshaft nach dem Vorbild
ewig nach der Gnade
vergänglich durch die Schlachtung des Schafes
unvergänglich durch das Leben des HERRN
sterblich, durch das Grab in der Erde
unsterblich durch die Auferstehung der Toten

Ganz anders und noch viel realistischer wird es in Maria, der Mutter unseres HERRN JESUS CHRISTUS: Der alles verbrennende GOTT, das brennende Feuer, den niemand ertragen kann, der GOTT, der sich Elia und Moses, die in einer Höhle versteckt waren, offenbarte, wenn er vorübergeht, weil die Propheten sein Antlitz nicht erkennen können, wird Mensch aus Maria. GOTT ist brennendes Feuer, so daß Moses auf dem Berge Sinai einen Schleier vor sein Gesicht tun muß, damit die Menschen das Leuchten in seinem Angesicht ertragen können, nur deshalb, weil er in der Ferne mit GOTT geredet hat, als er wieder vom Berge herunterkommt [16] .

Dieser GOTT, von dem es heißt: es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen GOTTES zu fallen [17] , wird in dem Leib einer Frau, der Jungfrau Maria, Mensch. ER wird umschlossen von menschlicher Wirklichkeit, was in diesem Dornbusch als Bild und Wirklichkeit Moses erschienen ist, wird jetzt in Maria historische Wirklichkeit.

Aber damit noch nicht genug. Auch wir, die wir das Heilige Abendmahl empfangen, werden vom glühenden Feuer der göttlichen Gegenwart durchdrungen. Darum heißt es: Der, du hinzutrittst zum Empfang des Heiligen Abendmahls, erschrecke, Feuer ist es, was die Unwürdigen verzehrt. (Vers nach dem 12.Gebet):

"Siehe nun schreite ich zum göttlichen Abendmahl,
mein Schöpfer, verbrenne mich nicht durch die Vereinigung,
denn DU bist Feuer, das die Unwürdigen versengt;
reinige mich vielmehr von jedem Makel.
Erblickst Du das göttlich machende Blut,
dann erschaure, o Mensch!
Denn Feuer ist es, das die Unwürdigen verzehrt.
Gottes Leib vergöttlicht mich und nährt den Geist
Verstand vergöttlicht ER,
nährt wunderbar den Sinn"


Verse aus dem Gebet vor der Communion, nach dem 12.Gebet (Seite 184/5)

Und deshalb sind diese ganzen verschiedenen Bilder von denen ich jetzt eben gesprochen habe, der Dornbusch, die Mutter unseres HERRN JESUS CHRISTUS, als historische Wirklichkeit und unser Empfang des Heiligen Abendmahls ein dynamisches Geschehen, in dem der alles verbrennende GOTT sich uns Menschen so naht, in SEINER Menschwerdung, daß wir mit IHM umgehen, IHN mit unseren Händen und Lippen berühren können.

Diese seinshafte, ontologische und geschichtliche Dynamik, dieses Wachsen auf Gott zu läßt uns in den Bildern der Offenbarung des Johannes die Vollendung ahnen. (Nähe, Gegenwart Gottes: Der brennende Dornbusch, die Gottesgebärerin, der Empfang des Heiligen Abendmahls.)

Die Begegnung mit Gott wird immer dichter und vollständiger. Im Essen und Trinken des heiligen Leibes und kostbaren Blutes, unverständlich und doch für uns vollziehbar, hat Gott in uns Wohnung, verbindet uns der Herr gleichzeitig miteinander, die ER durch das heilige Abendmahl mit IHM und untereinander verbunden hat.

Im neuen Jerusalem ist kein Tempel, keine Sonne; Christus ist das schattenlose Licht der Stadt der Vollendung.

"und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr, der allmächtige Gott ist Tempel und das Lamm.
Und die Stadt bedarf keiner Sonne, noch des Mondes, daß sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm." Offenbarung,21,22-23

Der dreifaltige Gott offenbart sich durch die Geschichte des Alten und des neuen Bundes im Licht, in strahlender Helle:

"Herr erhebe über uns das Licht Deines Angesichtes" (Psalm 4,7)
"Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten?" (Psalm 27,1, Prokimen der Taufe)
"Ja bei Dir ist die Quelle des Lebens, in Deinem Licht schauen wir Licht" (Psalm 36,10)
"und wird Deine Gerechtigkeit hervorbrechen, wie das Licht" (Psalm 31,6)
"Da er noch redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke." (Matth.17.5)

Im Morgengottesdienst vor dem Gesang des großen Lobpreises ruft der Priester mit erhobenen Händen:

"Ehre sei DIR, der DU uns Licht gezeigt hast!"

In diesen Worten und Bildern der Heiligen Schrift ahnen wir, wird unser Verstand gedrängt über die gewohnten Denk Dimensionen hinauszugehen:

Gott der Herr ist Tempel und Licht, wir wachsen dem Tag des Herrn entgegen, da uns das schattenlose Licht, da uns Christus eine unbegreiflich herrliche Gemeinschaft mit IHM, in der strahlenden Helle des dreifaltigen Gottes, und Gemeinschaft durch IHN untereinander gibt. O Mensch, der Du den Leib des HERRN empfangen willst nahe Dich voll Furcht, verbrannt zu werden Feuer ist es !

Darum denken die Gebete natürlich auch an den Propheten, der da Schwierigkeiten hatte das Wort GOTTES zu verkünden, weil er sagt: Ich bin ein Mann unreiner Lippen. Auch so etwas hören wir nicht gerne, auch wenn wir das sehr leicht mitsprechen können. Es kommt der Engel, wieder eines dieser gehaltvollen Bilder der Heiligen Schrift, und nimmt die glühende Kohle vom Altar Gottes und mit dieser glühenden Kohle reinigt er die Lippen des Propheten, daß er das Wort GOTTES zu verkünden vermag [18] .

So nimmt auch uns GOTT auf, wenn wir das Heilige Abendmahl empfangen und deshalb die Vorbereitung, die Gebete. Die Gebete, die immer wieder gesprochen, oder gelesen werden, und die gleichzeitig unseren Verstand immer wieder neu auffordern, den Geheimnissen des Abendmahls nachzusinnen, nachzuspüren.

"Denn nicht unachtsam, sondern voll Zuversicht auf Deine unaussprechliche Gnade komme ich zu DIR, mein Gott, (Joh.20,28), damit ich nicht, auf lange Zeit fern von Deiner Gemeinschaft, dem listigen Wolf zum Raube werde (Apostg.20,29), Deshalb bete ich zu Dir, heilige, als der einzig Heilige Gebieter, meine Seele und meinen Leib, meinen Verstand und mein Herz, meine Nieren und mein Inneres und erneuere mich ganz..." (2.Gebet des Hl.Johannes Chrysostomos vor der Communion, Seite 171)
"Wort Gottes und Gott, möge mir die Feuerglut Deines Leibes, mir Verfinstertem, Licht spenden, und Dein Blut meiner Seele Reinigung von jeglichem Makel bringen." (5.Ode,2,Vers)
Wie ein Feuer und wie ein Licht möge Dir mein Leib werden, Erlöser, und Dein kostbares Blut, das den Sündenstoff verbrennt und das Dornengesträuch der Leidenschaften aufzehrt, und mich ganz erleuchtet, auf daß ich Deine Gottheit anbeten kann." (9.Ode,3.Vers)

Die Gegensätze, die Unvereinbarkeit, das Überraschende, das Unannehmbare des Wortes GOTTES öffnet uns in der Spannung des Herzens den Blick für eine neue, für die Wirklichkeit.

Unsere Liebe zu der Mutter des Herrn, der Immerjungfrau Maria, unsere Gesänge, die von ihr sagen, unsere Anrufung, die ihr unerschütterliche Hilfe zutraut, fordert immer wieder unseren Verstand heraus, der zweifelnd und zugleich zuversichtlich fragt: sind wir auf dem Boden der Wirklichkeit und des Glaubens, wenn wir sie preisen mit den Worten:

Die Du geehrter bist als die Cherubim
und unvergleichlich herrlicher, als die Seraphim
die Du unversehrt GOTT das Wort geboren hast
wahrhaftige GOTTES Gebärerin
Dich preisen wir

Es gibt keinen orthodoxen Gottesdienst, und auch keinen Hausgottesdienst, bei dem dieses Lied nicht gesungen wird.

Ja, mutet uns dieses Lied nicht auch wieder etwas zuviel zu?

Selbst, wenn wir die Mutter unseres HERRN JESUS CHRISTUS lieben und ehren, und wenn wir uns einfach wundern, über das, was dort alles geschieht, und was sie alles tut, und wie sie zu den Dienern in der Hochzeit zu Kanaan sagt: Was ER euch sagt, das tut; dann wird uns doch etwas unwohl, wenn es da heißt: die Du geehrter bist als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim. Vielleicht glauben wir gar nicht an die Cherubim und Seraphim, aber daß es ganz hohe Engelgestalten sind, und daß dieses Lied ein Lobpreis eines Menschen ist, der über alle menschlichen Maße hinausgeht, das begreift auch der, der weder an die Jungfrauengeburt, noch an die heiligen Engel glaubt.

In der 9.Ode singen wir:

"Der vom anfanglosen Vater gezeugte Sohn,
der Gott und Herr, DER Leib angenommen hat
aus der Jungfrau und uns erschienen ist,
um die von der Finsternis umgebenen zu erleuchten
und die Zerstreuten zu sammeln
um Seinetwillen preisen wir die allbesungene Jungfrau"

Und gerade dadurch werden wir im Beten durch unseren Verstand aufmerksam gemacht, daß hier etwas ganz ungewöhnliches ausgesagt wird.

Die Antwort ist natürlich, letzten Endes, einfach: "Die Du geehrter bist als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim", dann danach sofort die Erklärung: "die du unversehrt GOTT das Wort geboren hast. Wahrhafte GOTTES Gebärerin, Dich preisen wir."

Der Wert eines Menschen, eines Engels, eines Geschöpfes hängt nicht davon ab, welche Kleidung er trägt, hängt nicht davon ab, welches Einkommen er hat, hängt auch nicht von der Größe seines Verstandes oder der Schönheit seiner Stimme ab, sondern wird allein bestimmt durch die Nähe zu GOTT. Je näher ich bei GOTT bin, um so herrlicher bin ich. Je näher ich bei Gott bin, um so herrlicher erfahre ich mich selbst und die Welt um mich.

Und wer ist am nächsten bei GOTT ? So ist die Antwort für den einfachsten Denkakt ohne weiteres zu vollziehen. Dann ist es die Mutter des HERRN JESUS CHRISTUS. Niemand ist GOTT so nahe wie sie, in deren Leibe, in deren Schosse CHRISTUS wächst. ER, Gott, wird von ihr umschlossen. ER, wie das die Verse des Bußkanons des Andreas sagen, nimmt aus ihrem purpurfarbenen Blut Gestalt an. Es ist offensichtlich: Näher kann GOTT niemand sein. Und infolgedessen ist dieses Lied voll und ganz "berechtigt". Aber es ist eine Anrede an uns. Ich habe gesagt: der Verstand erschrickt vor dem Unwahrscheinlichen, nein, vor dem Ungewöhnlichen, was sich da ereignet, und bringt uns dahin, in eine neue Richtung zu blicken, um bei diesem Blick die eigentliche und wahre Wirklichkeit zu erkennen. Unsere ganzen Wertsysteme werden über Bord geworfen und uns wird gesagt, daß der eigentliche Wert für uns ist, bei GOTT zu sein.

Nach dem Empfang des heiligen Abendmahls danken wir dem Herrn in fünf Gebeten. Das letzte Gebet wendet sich an die Allerheiligste Gottesmutter:

"Allerheilige Gebieterin, Gottesmutter, du Licht meiner verfinsterten Seele, meine Hoffnung, mein Schutz, meine Zuflucht, mein Trost, meine Freude, ich danke Dir, daß du mich Unwürdigen gewürdigt hast, an dem allerreinsten Leib und dem kostbaren Blut Deines Sohnes teilzuhaben.
Du aber, die du das wahre Licht geboren hast, erleuchte die geistigen Augen meines Herzens, die du den Quell der Unsterblichkeit geboren hast, mache mich, den von der Sünde getöteten, lebendig..." (5.Gebet nach der Communion, Seite 190/1)

In der Panichida, bei der Feier der Grablegung, in der Liturgie sind die Entschlafenen mit uns verbunden. Es wird erfahrbar, daß des Todes trennende Macht zerbrochen ist.

Die Zusagen der Heiligen Schrift werden Wirklichkeit:

Psalm 118,17 :
ich werde nicht sterben, sondern leben,
und des Herrn Worte verkünden.

Matth.22.31-32:
Habt ihr aber nicht gelesen von der Toten
Auferstehung, was Euch gesagt ist von Gott,
der da spricht: ICH bin der Gott Abrahams
und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs?
Gott ist aber nicht ein Gott der Toten,
sondern der Lebendigen.

Johannes 5,25:
Wahrlich, ICH sage Euch: Es kommt die Stunde
und ist schon jetzt, daß die Toten werden
die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die
sie hören werden, die werden leben."
(Evangelium bei der Beerdigung)

Die Worte des Herrn ergreifen wir im Glauben, wenn und wo wir nach ihnen handeln. Glaube ist der Mut, die Bereitschaft und die Zuversicht nach dem Wort des Herrn zu handeln. So beten wir mit und für die Entschlafenen, wie wir mit und für die noch mit uns in dieser Zeit und Welt Lebenden beten.

Die Fürbitte ist ein Wort der Gemeinschaft, daß wir füreinander beten, ist nicht notwendig in einem kausal irdischen Zusammenhang, ist nicht "wirksam, als magisches Tun", sondern ist allein Ausdruck der Gemeinschaft, zu der uns Christus ruft, der der Schlußstein des Gewölbes der Kirche ist, deren lebendige Steine wir sind. Und zugleich lebt in unserer Fürbitte unser Vertrauen und unsere Liebe zu Gott, DER uns, seine Kinder und Erben, hört und unsere Bitte füreinander liebevoll annimmt.

Für das Gebet ist der Tod keine Grenze, im Beten sind wir, die hier Lebenden und die Entschlafenen, verbunden zu der einen großen Gemeinschaft der nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen, die in der Kirche ihre sichtbare Gestalt findet.

Die Auferstehung ist die Gewißheit der in Liebe und Gebet erfahrenen Gemeinschaft mit den Entschlafenen; das Gebet mit den Entschlafenen ist das Bekenntnis und die Erfahrung der Auferstehung Christi.

Oft werden wir gefragt: Wo ist Christus, der Auferstandene? Auch fragen wir uns selbst: ist die Auferstehung wahrhaft die Erneuerung und Wandlung der Welt? Im Gebet mit und für die Entschlafenen werden wir der Kraft und des Lichtes der Auferstehung Christi inne, geprüft von unserem Verstand und weit über alles hinaus, was uns der Verstand an Gewißheit geben kann.

Im Augenblick, wo wir aus der Auferstehung des HERRN JESUS CHRISTUS handeln, und Beten ist Handeln, bekennen wir wirklich, und erfahren wir wirklich, daß der HERR auferstanden ist von den Toten und keiner mehr im Grabe ist. Es heißt: als ER gekreuzigt wurde, taten sich viele Gräber auf, und die Toten erschienen vielen in Jerusalem [19] .

Die bekannteste Ikone von der Auferstehung Christi ist ein Bild von der Höllenfahrt oder besser des Hinabsteigens des Herrn in das Reich des Todes am Karsamstag, zwischen Karsamstag und Ostermorgen.

"Denn deshalb wurde auch den Toten des Evangelium verkündet, damit sie zwar Gericht erfahren als Menschen, dem Fleische nach, aber lebendig seien Im Hinblick auf Gott dem Geiste nach." [20]

"Im Geiste ging auch er hin zu den Geistern im Gefängnis und predigte ihnen" [21]

Die Ikone zeigt die zerbrochenen Tore der Totenwelt, des Hades, der Scheol. Christus steht auf den kreuzförmig übereinandergestürzten Torflügeln in einem strahlenden Licht, der Mandorla. Die Toten kommen von beiden Seiten, Johannes der Täufer führt sie zu Christus, wie er die Lebenden zur Umkehr gerufen hat. Christus streckt seine Hände aus und ergreift Adam und Eva, ER zieht sie aus der Welt und der Macht des Todes und ungezählte folgen ihnen und gehen auf Christus zu. Jeder entscheidet sich angesichts des Herrn, DER zu den Toten kommt - die Ikone zeigt, wie alle sich für Christus entscheiden, wie alle auf dem Weg zu IHM sind, DER das Leben ist und ihnen allen die Quelle des Lebens wird.

Mit der Auferstehung, mit dem Kreuzestod und der Auferstehung des HERRN JESUS CHRISTUS hat der Tod keine Macht mehr. Und diese Tatsache, daß er keine Macht mehr hat, die bestätigen wir, die erleben wir, die erfahren wir, wenn und wo wir mit und für die Entschlafenen beten.

Die Engel, sagt Athanasius von Alexandrien, die Engel können schwer zwischen lebendigen und toten Menschen unterscheiden. Was die Engel am Menschen wahrnehmen, ist, daß er nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, ob er nun lebt, oder entschlafen ist, ist für die Engel unwichtig. Das ist etwas, das wir im Gebet wie die Engel erfahren; da wir für die Entschlafenen beten, sie so anreden, und mit ihnen so verbunden sind, wie mit denen, die noch auf dieser Erde leben und im Augenblick für uns vielleicht auch nicht sichtbar sind. Darum ist dieses Gebet von so großer Bedeutung, und verändert im Grunde genommen das Verhältnis zu unserem eigenen Tod, und zu den Entschlafenen. Die vielgestaltigen Bildvorstellungen der Menschheit über das Sein nach dem Tode spielen für mich keine Rolle mehr, wenn meine Gemeinschaft mit den Entschlafenen eine Gemeinschaft der Liebe und des Gebetes ist, wenn ich im Gebet mit ihnen verbunden bin.

Es sind lange und viele Gebete, ich werde nur ganz wenig vorlesen:

Gepriesen bist Du, o HERR
Lehre mich DEINE Weisungen
Ich bin das Bild DEINER unaussprechlichen Herrlichkeit
ob ich gleich die Wunden der Verfehlungen trage
Habe Erbarmen mit DEINEM Geschöpf GEBIETER
reinige es nach DEINER Herzensgüte
Schenke die ersehnte Heimat und mache mich
wieder zum Bewohner des Paradieses

In vielen dieser Gesänge der Panichida, dieses Gebetes, redet der Entschlafene zu uns. Er ist unmittelbar bei uns. Er verkündet uns den Glauben. Er wendet sich an uns. Auch in anderen Texten, wo er von der Schrecklichkeit des Todes spricht:

Gestern noch wandelte ich mit Euch
gestern noch sprachen wir miteinander
gestern noch hielten wir uns bei der Hand

das ist alles vorbei, aber nun erzählt er von dem, was sich dort ereignet:

Der Chor der Heiligen fand die Quelle des Lebens
und die Tür des Paradieses
o daß auch ich den Weg finden möge
durch Buße
ich bin das verlorene Schaf
rufe mich HEILAND zurück
und errette mich

Wie auch in allen westlichen Kirchenliedern sind die Gesänge und Gebete der Kirche nichts anderes, als die ständig neu zitierte Heilige Schrift:

"Der Chor der Heiligen fand die Quelle des Lebens."

Die Heiligen sind nicht besondere Leute, sondern heilig sind wir alle, die wir getauft sind. "Das Heilige den Heiligen" heißt es bei der Austeilung des Heiligen Abendmahles. Die Quelle des Lebens [22] und die Tür des Paradieses, ist CHRISTUS. O daß auch ich den Weg finden möge durch Buße, durch metanoia [23] , durch Umkehr. Und so ist dieses gemeinsame Gebet mit den Entschlafenen in der ausgeprägten Form der vielgestaltigen Gebete, der vielgestaltigen Gesänge dieses Gottesdienstes eine Erfahrung unserer Gemeinschaft mit denen, die von uns gegangen sind, eine Erfahrung, die durch das Denken getragen ist, in dem das Denken eine Welt öffnet, in die unser Herz eintritt und wir mit den Entschlafenen verbunden sind. So schließt das wieder zusammen, was ich zu Anfang gesagt habe: Der HERR hilft uns durch unser Denken, gerade vor dem Unwahrscheinlichen, vor dem Überraschenden, vor den unser alltägliches Leben überschreitenden Wirklichkeiten des Glaubens, der Begegnung mit den Entschlafenen, mit dem HERRN und mit der Mutter unseres HERRN JESUS CHRISTUS, aufmerksam zu sein für Gottes Gegenwart.

Das bedeutet nicht eine neue Welt zu erfahren, sondern endlich der Welt so inne zu werden, wie sie tatsächlich ist. Und die Maßstäbe auch unseres alltäglichen Lebens von dieser Wirklichkeit her zu nehmen, wie es in einem der Gebete heißt, die Perle zu suchen:

"Und abermals ist gleich das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte. Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte und kaufte sie." [24]

In der Panichida: Ich bin das Bild von Deiner unaussprechlichen Herrlichkeit, ob ich gleich die Wunden der Verfehlungen trage: Habe Erbarmen mit Deinem Geschöpf, o Gebieter, und reinige es nach Deiner Herzensgüte. Schenke die ersehnte Heimat und mache mich wieder zum Bewohner des Paradieses.

6.Lied: Das Meer des Lebens sah ich aufgewühlt vom Sturm der Gefahren. Zu Deinem stillen Hafen bin ich gelangt und rufe zu DIR: Führe mein Leben aus der Vergänglichkeit, DU Allgütiger.

Metanoia, Hin-Wendung zu Gott, ist die Ahnung und der Weg zum Paradies. Je mehr wir im Beten und Denken uns selbst und unser ganzes Leben und einander in der Gemeinschaft mit den Entschlafenen Christo, unserem Gott befehlen und hingeben, um so mehr gewinnen wir die Perle, die von keiner Vergänglichkeit bedroht ist, das Leben mit und in Christo, das hier und jetzt im Gebet mit den Entschlafenen, wie im Empfang des heiligen Abendmahls Wirklichkeit, erlebte Wahrheit wird.


[1] Orthodoxes Gebetbuch, München, ISBN 3-926 165 10 1 Seite 153-191

[2] chodátai

[3] die Ungetauften

[4] Matth.5,8

[5] Matth.13,45 ; Matth.19,29 ; Joh.21,22

[6] Matth.22,1-14

[7] 2.Könige 5.5

[8] 1.Mose 3,21

[9] 2.Moses 39

[10] Matth.22.13

[11] Gal.3,27

[12] 2.Mose 3,5

[13] Einheitsübersetzung 1980, Seite 63

[14] 2.Moses,12,13

[15] Meliton von Sardes, Vom Passa, die älteste Osterpredigt, 1963 Sophia, Bd.3, Lambertus Verlag

[16] 1.Kor.19,13; 2.Mos.34,6; 2.Mos.34,33

[17] Hebr.10,31; 2.Mos.15,11; 1.Tim.6,16;

[18] Jes.6,5-7

[19] Matth.27,52-53

[20] 1.Petrus,4,6

[21] 1.Petrus,3,19

[22] Psalm 36,10; Off.22,17 ; Joh.7,38

[23] Matth.3,2 ; Mark.1,4

[24] Matth.13,45-46

St. Marien / Buxtehude 13. März 1997

Gebet - Denken

Die einen Leute meinen, wenn sie das hören, das ablenkende Denken, das einen beim Beten stört: wenn man dauernd an andere Dinge denkt. Was ich mir ursprünglich dachte, als ich mir dieses Thema vorgenommen habe, war ganz etwas anderes: ob unser Denken uns nicht am Beten hindert, weil wir uns dauernd überlegen: "Kann das denn überhaupt stimmen, was wir da beten? Ist das denn überhaupt vernünftig? Kann ein erwachsener Mensch, der studiert und vielleicht einen Doktortitel hat u.ä., diese einfachen Gebete sprechen? 'Mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm!´ - Was ist denn das wohl für ein Gebet?" Das war mein Gedanke. Ich glaube, wir können ruhig beides miteinander verbinden.

Fangen wir gleich mit der modernen Welt an. Die moderne Welt ist voller Freizeit. Ich meine nicht die Freizeit, die Menschen leider meistens nicht zum Gebet verwenden, sondern zu Ausflügen und ähnlichem, sondern ich meine die Freizeit, die sie meistens gar nicht beachten, die die moderne Welt uns aufzwingt, z.B. durch die Ampel. Als ich geboren wurde, 1923, wurde die erste Verkehrsampel in Paris eingeführt. Heute gibt es, wie Sie wissen, eine ganze Menge davon. Und jedes Mal, wenn wir zu Fuß, mit dem Auto, mit dem Fahrrad vor einer roten Ampel stehen - die Fahrradfahrer nicht, aber wir als Fußgänger oder Autofahrer richten uns in der Regel nach der Ampel -, dann ist 'Freizeit'. Oder: Sie stehen vor dem Fahrstuhl und drücken auf den Knopf: Freizeit bis der Fahrstuhl kommt. Oder: Sie telefonieren. Früher war das noch so, daß Sie das Knacken hörten. Da war man immerhin "beschäftigt". Heute ist kein Knacken mehr zu hören. Sie geben die Nummer ein, und dann ist Pause: Freizeit. So könnte man noch von vielen "Freizeiten" sprechen, und diese Freizeiten, meine ich, sind gerade in der modernen Welt eine Aufforderung zum Gebet. Das sind die Augenblicke, in denen man wirklich gelassen beten kann. Ist doch nicht so schlimm, wenn einer hinter einem hupt wird, weil man nicht gesehen hat, daß schon Grün ist. Er sagt einem ja Bescheid. Infolgedessen könnten wir all diese Augenblicke wirklich dazu nutzen. Warum nutzen wir sie nicht? Vielleicht nutzen Sie sie ja alle, ich will Ihnen gar keine Vorwürfe machen. Aber warum nutzen wir sie meistens nicht? Weil wir mit vielen Gedanken beschäftigt sind, aber gerade nicht mit Gedanken an Gott. Und das ist eben unsere große Schwierigkeit. Ich will das nicht gleich als Sünde bezeichnen, aber in meinen Augen ist das schon in der Nähe von Sünde, daß unser Kopf von Gedanken so voll ist, daß wir gar nicht auf die Idee kommen, während die Ampel auf Rot ist, zu beten. Es gibt doch ganz, ganz kurze Gebete.

Es muß nicht gleich das ganze Vaterunser sein - da reicht die Zeit meistens nicht -, aber "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner." kann man immer beten.

Warum ist unser Kopf so voll? Schon Bischof Athanasius - ein alter, frommer Mann - sagte einmal: "Es ist so: Wenn ich mit Gott sprechen will, dann ist das, als ob ich in den Königshof komme. Der König ist zwar da, er spricht auch, aber ich trete in den Königssaal ein und in das Schloß, und alle Leute reden. Und ich werde ganz unruhig und sage: 'Haltet doch endlich mal den Mund, damit ich höre, was der König sagt!'" "So ist das", sagt Athanasius, "mit unseren Gedanken." Wir denken darüber nach, wie die Rechnung für die letzte Reparatur unseres Autos ausfällt, welches Kleid wir kaufen und ähnliche Dinge. Das beschäftigt uns ständig. - Wie den reichen Bauern, der eine große Ernte hatte und sagt: "Herr, was soll ich nun machen? Ich werde die alte Scheune abreißen und eine neue bauen und dann werde ich zu meiner Seele sagen: 'Habe gute Ruhe auf viele Jahre.'" Und Gott sagt zu ihm: "Du Narr! Heute nacht werde ICH Deine Seele von Dir fordern. Was wird es dann sein, das Du da alles gesammelt hast?"

Ja, es ist wirklich gut, wenn wir unsere Gedanken damit erfüllen. Das nennt man in der Medizin einen "Rückkopplungseffekt", d.h. daß wir, indem wir gerade in diesen kleinen Freizeiten, die wir haben, immer wieder beten, unsere Gedanken mit Gott erfüllen. Das ist auch bei vielen anderen Dingen so, z.B wenn man sich an den Tisch setzt und sich bekreuzigt. Das macht großen Eindruck. Die Leute gucken alle auf Sie, Sie sind richtig im Mittelpunkt. Wir können die besten Kleider anziehen - haben die anderen auch an -, aber sich im Restaurant zu bekreuzigen, das ist einmalig. Da sind Sie wirklich Mittelpunkt für einen ganz kurzen Augenblick: frommer Mittelpunkt des ganzen Restaurants. Oder: Wenn Sie sich ins Auto setzen, sich bekreuzigen (vorsichtig, damit Ihr Vordermann nicht denkt, Sie zeigen ihm einen Vogel.) und losfahren. Auch dann.

All das sind Dinge, in denen ich mein eigenes Leben, mein eigenes Denken und mein eigenes Sein erfülle mit Zuwendung zu Gott, mit Offenheit für Gott. Das ist das Geheimnis der Ikone oder des Kreuzes. Es ist ein Fenster hier in diesem Raum zu Gott, durch das Gott zu uns hereinblickt, der Herr Jesus Christus, ausgestreckt am Kreuz, auf uns herabblickt und wir auf Ihn. Das ist Gemeinsamkeit mit IHM.

Aber es gibt noch etwas anderes, durch das ich mein eigenes Leben und mein eigenes Denken ein wenig - wie meine Mutter es nannte - "an die Kandare nehmen" kann (das sind diese Gebißstangen, die Pferde im Maul haben, damit man sie besser führen kann). So müßte man auch , meinte meine Mutter, sein eigenes Denken ein wenig an die Kandare nehmen, damit es nicht immer kreuz und quer und - wie Hase und Igel hier in Buxtehude - hin und her läuft: indem man den Tag nach den Tageszeiten einteilt. Das tun Sie ja auch mittags: 'Der Engel des Herrn' - ein sehr schönes Ereignis, das plötzlich den Tag unterbricht. Irgendwo läutet zwar meistens eine Glocke, aber das Wesentliche ist dann doch das Gebet. Und je mehr wir lernen - oder: je mehr wir uns daran erinnern -, daß diese Zeit in Gottes Händen ist und von Gott geprägt ist - um 9 Uhr morgens hat man vielleicht gerade Zeit, die Handwerker machen 'Fünfzehn', und Sie machen, glaube ich, auch eine kleine Pause -, kann man doch einmal den Heiligen Geist anrufen. Das nämlich ist der Augenblick, in dem der Heilige Geist auf die Jünger herabkam. In der Orthodoxie ist es auch so üblich: "Herr, der Du Deinen Heiligen Geist in der dritten Stunde (9 Uhr ist die dritte Stunde nach der alten römischen Zählung) Deinen heiligen Aposteln und Jüngern herabgesandt hast, nimm ihn nicht von uns, sondern erneuere uns, die wir zu Dir beten." Und mittags - finde ich immer sehr schön, wenn ich daran denke -, da fühle ich mich in den Hain Mamre versetzt. Als der Tag am heißesten und Abraham dort in seiner Hütte unter der großen Eiche des Hain Mamre war, kamen die drei Engel, die mit einer Stimme redeten: Gott, der Heilige, der Sich als der Dreifaltige offenbarte. Oder um 12 Uhr mittags: Die Frau in Samarien, die - weil sie fünf Männer gehabt hatte und jetzt nicht verheiratet war mit dem letzten - Ausgestoßene, die deshalb in der heißesten Zeit zum Wasserschöpfen kam. Die anderen Frauen kamen früher oder am Abend, wenn es kühler war, und unterhielten sich; aber mit dieser Frau wollte niemand reden. Darum kam sie also um die Mittagszeit - 12 Uhr - und traf den Herrn Jesus Christus. Oder: Der Herr Jesus Christus wurde ans Kreuz geschlagen. Es ist 3 Uhr nachmittags, als der Herr am Kreuze stirbt. Und abends finde ich immer schön, wie bei Ihnen auch die Vesper gehalten wird, so um 18 Uhr etwa. Ein sehr schönes Wort aus der Bibel, zwar zum Paradies, aber unser Gottesdienst und unser Gebet sind ja schon beinahe Paradies: "Als der Abend kühler war, wanderte Gott mit Adam und Eva im Gespräch durch den Garten des Paradieses." Ist es nicht sehr schön, wenn man abends sich Gott zuwendet und mit Ihm spricht? Das ist - gerade zur Abendzeit - etwas sehr Ergreifendes. "Oh, Jesus Christus, Du milder Glanz der Herrlichkeit des unsterblichen, heiligen und seligen himmlischen Vaters, zum Untergang der Sonne sind wir gelangt und haben das Abendlicht geschaut und preisen Gott, den Vater, und den Sohn und den Heiligen Geist. Würdig bist Du allezeit, von Stimmen der Seligen gepriesen zu werden, oh, Du Sohn Gottes, der Du das Leben spendest. Deshalb verherrlicht Dich die Welt." Ich will jetzt nicht die ganzen Tageszeiten durchgehen, ich möchte nur noch an Mitternacht erinnern. Das ist wahrscheinlich der Augenblick, in dem die törichten Jungfrauen, die gerade das Öl holen mußten, nicht da waren, als der Bräutigam kam. Das ist der Augenblick, in dem der Herr zu uns kommt. Es ist - zeichenhaft, aber vielleicht auch ganz wirklich - zumindest der Augenblick, in dem sich unser Herz dem Jüngsten Gericht zuwendet: "Herr, Du wirst wiederkommen zu Deinem heiligen Gericht, und alle meine Taten werden offenbar werden. Und so rufe ich um die Mitternacht: 'Heilig, heilig, heilig bist Du, oh, Herr. Um der Gottesgebärerin willen, erbarme Dich unser!'"

So also kann man den ganzen Tag einteilen, und je mehr man das tut, desto mehr beginnen die vielen Gedanken und Überlegungen, die mich beim Beten stören, etwas leiser und stiller zu werden. Denn das geht ja ganz schnell: von 9 Uhr bis 12 bis wieder 15 Uhr - die Zeit ist sehr schnell vergangen; aber ich habe immer wieder einen Haltepunkt, wo ich Gott ganz ausdrücklich begegne.

Und so wird unsere Seele erfüllt. Das muß man üben. Sie wissen, daß wir auch jetzt in einer Zeit leben, in der ständig von der Rechtfertigung gesprochen wird und in der auch die katholischen Theologen und die katholische Kirche erkannt haben, daß Luther doch weitgehend wohl Recht gehabt hat, daß der Mensch nur durch Gnade erlöst wird und daß die Werke nicht so wichtig sind. Ja, das ist alles ganz gut und schön, aber üben muß man trotzdem, und zwar nicht, daß man in den Himmel kommt - das ist ein anderes Problem -, sondern deshalb, daß man einfach die große Freude hat, hier heute und jetzt im Gebet ständig mit Gott zusammenzuleben. Das muß man üben. Darum eben das "Herzensgebet", das Gebet, das ständig - in jedem freien Augenblick, ganz "un-unterbrochen" - still mitläuft. Wenn Sie einen schönen Schlager gehört haben, werden Sie doch die Melodie oft nicht wieder los. Das können wir, aber daß die Melodie des Gebetes "in uns immer mitläuft", ist keineswegs unmöglich. Das darf man üben, das darf man immer wieder auch von Gott erbitten.

Aber nun kommt noch etwas anderes - ich habe dazu schon einige Worte ge= sagt -, das mir ganz wichtig ist: das Gebet im Zeichen. Während das Gebet in Gedanken und auch in Worten - von anderen Gedanken abgelenkt - leicht gestört wird, ist das beim Gebet im Zeichen nicht so. Ich meine jetzt - schon ein uralter Text, den ich immer sehr schön gefunden habe: "Als Adam und Eva das Paradies verließen, rauschten weinend die Blätter der Bäume des Paradieses." Sehr kindlich, das weiß ich auch, aber ich finde es trotzdem einfach schön. Auch Augustinus hat geschrieben, wenn er morgens die Vögel aufsteigen sieht, dann spürt er richtig, wie sie zur Ehre Gottes gen Himmel fliegen. Eben: ein Zeichen. Aber wir haben Zeichen, die wir oft gar nicht richtig bemerken. Das Kreuzeszeichen - davon habe ich schon gesprochen und wir dürften davon sehr viel mehr Gebrauch machen. Das Kreuz ist das Zeichen, wie wir aus der Christopheruslegende - sagen die Katholiken heute, bei uns ist das aber noch Realität - wissen,. . . Christopherus ist mit dem Teufel unterwegs, weil er gern einen "großen" Herrn haben will - gibt ja viele Leute, die so mit dem Teufel unterwegs sind, wir nicht -, sie kommen an einem Kreuz vorbei, und da will der Teufel den Weg nicht reiten. Dann sagt der Christopherus: "Sag mal, was ist denn mit Dir los? Warum willst Du denn da nicht reiten?" "Hmm", guckt er da hin, der Teufel, "Nein!" Ja, so ist das wirklich! Wir nehmen das immer nicht so ernst, aber ich nehme es mittlerweile sehr ernst. Der Teufel kann das Kreuz-Zeichen nicht ab, und die stärkste Waffe gegen das Böse in uns und um uns ist das Kreuzeszeichen. Das ist doch unser aller Tradition, unsere alte Überlieferung. Aber wenn man einmal durch eine Stadt geht und sich ansieht, wie häufig Kreuzeszeichen gemacht werden, dann muß man sich wundern, warum wir das nicht tun. Unsere Jugend trägt das Kreuz jetzt als Modeschmuck - auch das ist ganz gut, glaube ich -, aber wichtig wäre doch, daß wir das Kreuzeszeichen mit vollem Bewußtsein machen.

Noch etwas, das immer verwundert, wenn Sie in die orthodoxe Kirche kommen: Da gibt es viel weniger Stühle als in diesem Saal, obwohl die Kirche doch etwas größer ist. Die Menschen stehen. Im Zeichen des Stehens vor Gott ist etwas, das auch dann sehr schön ist, wenn man es nicht erklären kann. Wir meinen immer, wir müßten alles mit dem Verstand erklären. Ich weiß gar nicht, ob das unbedingt wichtig ist, aber man kann es natürlich erklären: Es ist eine große Ehre, aufrecht vor Gott zu stehen. Das wird uns erst klar, wenn wir - ich will doch ruhig sagen: unsere Schwestern und Brüder - die Muslime sehen. Wenn sie ihre Gebete verrichten: Auf die Erde! Kopf nach unten! Und wir dürfen aufrecht vor dem allmächtigen Herrn, der die ganze Welt geschaffen hat, dem dreifaltigen Gott, stehen, und deshalb stehen die orthodoxen Christen mit so großer Begeisterung im Gottesdienst, nicht nur, wenn das Evangelium gelesen wird, sondern wer eben kann - und man muß sich immer wundern, wieviele alte Leute zwei, drei Stunden ganz aufrecht stehen -, der steht wirklich mit großer Freude, und man erlebt das auch. Das ist Gebet im Zeichen. Ich brauche es gar nicht zu verstehen, aber die Tatsache, daß ich aufrecht vor Gott stehe und meine Augen zu IHM erhebe, ist etwas, das "meine Seele mitnimmt". Mein Körper ist ja, wie Sie wissen, der freundliche Bruder der Seele, aber der Körper kann uns auch mitnehmen. Und so, wenn wir aufrecht stehen, nimmt er uns mit. Ich will gar nicht die Stühle aus Ihrer Kirche entfernen, aber wenn Sie aufstehen - in den Augenblicken, in denen das eben auch in der katholischen Messe geschieht -, kann Ihnen vielleicht wirklich bewußt sein, daß das ein Gebet ist, daß Ihr ganzer Körper jetzt plötzlich Anteil hat, Gott gegenüberzustehen, und zwar - so heißt es ja von Moses - "wie ein Mann mit seinem Freunde redet".

Auch Fasten ist Gebet. Ärzten gelingt es heute in der Regel - Pfarrern nicht mehr so gut wie früher -, den Leuten das Fasten beizubringen, obwohl es unvernünftig ist: Das Fasten ist sehr viel besser für die Seele als für den Körper. Ein bißchen Übergewicht ist doch ganz angenehm - solche Leute sind oft viel netter und freundlicher -, aber für die Seele ist das Fasten etwas ganz Wichtiges: daß ich meinen Körper, den Bruder der Seele, wieder auffordere: "Indem Du jetzt durch Enthaltsamkeit, auch durch schmerzhafte Enthaltsamkeit: durch Hunger, Dich immer wieder daran erinnerst: Gott ist nahe." Ich finde auch, es ist kein reines Vergnügen, wenn man vor der heiligen Kommunion nichts ißt. Die Leute fragen immer: "Wann muß man denn, Vater Ambrosius, ab wann denn?" "Na", sage ich, "ab Mitternacht ist allgemeine Vorschrift, aber ein bißchen früher ist auch gut. Du mußt ja nicht bis Mitternacht feiern und dann aufhören zu essen." Je länger, desto besser. Es gibt eine ganze Reihe Leute, die - etwa in der Karwoche - eine ganze Woche lang nichts essen. Ich weiß das auch: Hunger ist nicht nur ein guter Koch, sondern ein Hinweis auf den gegenwärtigen Gott. Denn: Habe ich Hunger, würde ich doch. . . Ach nein, ich wollte ja fasten. Solche Zeichen wie das Fasten sind eben auch eine große Hilfe zum Gebet und werden - das war meine Rede - nicht so gestört durch meine vielen Gedanken, die mich dauernd vom Gebet und Beten abbringen.

Noch ein Drittes kommt hinzu: das Wachen. Wenn Sie einmal überlegen, wieviel Schlaf- und Beruhigungsmittel, Baldrian u.ä., in unserer Welt verkauft werden. - Das geht in die Millionen Tonnen! Andere Leute nehmen dafür nur Bier, das ist auch gut, aber letzten Endes fragt man sich: Warum wollen wir denn eigentlich so fest schlafen? Ist Ihnen noch nie aufgefallen, daß in der Heiligen Schrift nichts vom Schlafen steht? Ja, Negatives. Aber vom Wachen steht da sehr viel. Wer nachts aufwacht, der muß nicht gleich zur Baldrian-Tablette greifen, sondern kann ans Fenster gehen und sehen, ob nicht die Sterne scheinen, und Gott dafür preisen, daß Er einen so herrlichen Sternenhimmel geschaffen hat, wie das auch in den Klöstern - bei Ihnen wie bei uns - üblich ist: daß ein Mönch nachts durch die Zellen geht, anklopft und sagt: "Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste." Und der arme Mensch, der geschlafen hat und nun aufschreckt, muß dann sagen: "Jetzt und immerdar und in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Amen." Ich habe mir das auch angewöhnt - ich finde das sehr schön - und zu meinem Erstaunen bemerkt, daß ich am anderen Tag oft viel ausgeschlafener bin als wenn ich fest durchgeschlafen habe. Das ist seltsam. Offenbar ist diese Idee, daß wir fest durchschlafen müssen, gar nicht so vernünftig, auch medizinisch ein wenig zweifelhaft.

Mit der Erholungsphase hat es auch so seine Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, ob Ihnen eine sehr seltsame Sache klar ist: Man kann nicht feststellen, was ich träume - zum Glück -, aber man kann natürlich mit einem EEG, mit einer Ableitung der elektrischen Ströme vom Gehirn, feststellen, ob ich träume. Das elektrische Bild - wie beim EKG (also dem Herzstrombild) so beim Gehirnstrombild - verändert sich im Augenblick, in dem man träumt. Daher wissen wir, daß auch Tiere träumen. Wenn man eine Katze schlafen sieht, dann fängt sie plötzlich eine Maus: Sie träumt also. Und man hat festgestellt, daß ein Mensch, den man über längere Zeit immer dann weckt, wenn er anfängt zu träumen, verrückt wird - um das ganz einfach zu sagen -, d.h. er kommt aus dem seelischen Gleichgewicht. Also: Wenn ich jemanden mehrere Nächte lang, etwa über die Dauer einer Woche, immer dann - jetzt fängt er nach dem EEG zu träumen an - wecke, so daß er nicht träumt - er schläft dann wieder ein, und ich passe wieder auf , und sobald er träumt, wird er wieder geweckt -, "das kann er nicht ab" (wie die Hamburger sagen), da kommt er ins Ungleichgewicht. Wenn wir uns das einmal überlegen! - Darum finde ich die Medizin so schön. Offenbar ist das, was ungeordnet, chaotisch - nicht immer, aber doch oft - in unseren Träumen vor sich geht, notwendig zu unserer seelischen Gesundheit. Wieviel mehr notwendig wäre das ständige Gebet in der Nacht! Es muß ja nicht jede Stunde sein - sagen wir: alle zwei Stunden, vielleicht wachen Sie auch von selber auf -, aber daß Sie einfach mal die ganze Nacht dadurch prägen: wachen und sich erinnern, daß die seelische Gesundheit davon abhängt, daß wir träumen, aber daß sie noch viel besser wäre, wenn wir nicht nur träumen würden, sondern auch beten. Das ist Gebet im Zeichen. Dabei erinnere ich mich immer an die alte Geschichte vom kleinen Jungen, der so dumm war - "debil", wie Mediziner sagen -, daß er nichts verstehen konnte, und dem der Pfarrer an fünf Fingern beigebracht hat: 'Ich bin der Herr, Dein Gott.' Eines Tages ist er in den Bergen von Bayern - da komm´ ich auch her - abgestürzt und war tot, hatte aber den Finger "Dein Gott" mit der anderen Hand umfaßt: Er hat in seiner "Dummheit" etwas begriffen, was wir manchmal gar nicht so recht begreifen. Eben das ist erstaunlich, und das alles ist 'Gebet im Zeichen'. Gebet ist gelebte Heilige Schrift. Ich habe einmal unser Gebetbuch mitgebracht. Es ist für jeden geeignet, auch für den Pfarrer, aber eigentlich ist es für die Gläubigen, für das "Gottesvolk", gedacht. Was darin alles steht! Wenn man die Heilige Schrift besser kennt als wir sie meistens kennen - ich muß auch immer konkordant nachsehen -, dann stellt man voller Erstaunen fest: Alles, was darin steht, ist fast Zitat aus der Heiligen Schrift. Wenn wir uns einmal durch unser Gebet bewußter mit der Heiligen Schrift beschäftigen würden, könnte auch unser Glaube, unsere Liebe zu Gott, unsere Liebe zu den Mitmenschen wachsen und reifer werden. Ich weiß nicht, ob es gut ist, die Heilige Schrift kritisch zu betrachten. Die Orthodoxen können das noch nicht verstehen; Bibelstunde ist für sie geradezu "ein rotes Tuch". "Wie können Leute beim Kaffeetrinken zusammenkommen und über das Wort Gottes miteinander 'klug diskutieren'?! Der Herr hält davon auch nicht sehr viel" - ich rede von unserer Kirche. Aber: Im Gebet mit der Heiligen Schrift umzugehen und immer wieder zu beten, betend die Worte der Heiligen Schrift zu wiederholen, sie uns ganz einzuprägen, die Heilige Schrift betend zu studieren: Das ist eine ganz großartige Sache! Und wer damit einmal angefangen und dann gemerkt hat, wie überall in der Heiligen Schrift das Wort des Gebetes verborgen ist - Sie brauchen nur irgend etwas nachzusehen, hier gerade nicht, aber wenn da Fußnoten sind. Ich habe für mich selber ein anderes Gebetbuch, in das habe ich hineingeschrieben, wo überall es in der Heiligen Schrift vorkommt. Das ist eine ganz erstaunliche und herrliche Sache!

Noch einen kleinen Schritt weiter: Das Gebet ist Bekenntnis. Das ist etwas, was uns oft nicht so klar ist. Wir denken, Bekenntnis ist eine rationale Leistung: eine Leistung des Verstandes. Schön wär´s! Wer von uns ist denn in der Lage, den ungeheuren Reichtum, den uns Gott in Seiner Offenbarung geschenkt hat, wirklich ganz und gar mit seinem so winzigen Verstand zu durchdringen? Und dann hat der Herr auch noch gesagt: "Den Weisen ist es verborgen." Aber: Im Gebet mit diesem Bekenntnis umzugehen. . . Deshalb beten wir vor dem Empfang des heiligen Abendmahls: "Ich glaube und bekenne, daß dies ist wahrhaftig Christus, Der in die Welt gekommen ist, die Sünder zu erretten, deren ich der erste bin." (wörtliches Zitat aus dem Timotheus-Brief des heiligen Apostel Paulus) Das wird jedesmal gebetet, ehe wir das Abendmahl empfangen. Der Priester betet das auf russisch/auf deutsch laut vor, damit es alle, die da sind, auch verstehen können, und wir beten das dann gemeinsam. Wer verheiratet ist, weiß, daß es nicht unbedeutend ist, daß man einmal im Standesamt und noch einmal in der Kirche sich versprochen hat, sich zugesagt hat einem anderen Menschen, dass das Gestalt und Wort gefunden hat. Das ist nichts Selbstverständliches, und das prägt doch unser ganzes Leben. Oder nehmen Sie ein vielleicht noch einfacheres Bild: jemanden um Verzeihung bitten. Das ist doch auch erstaunlich: Oft wissen wir, daß wir etwas gemacht haben, das den anderen ein bißchen geärgert und ihm wehgetan hat. Wie schwer fällt es uns dann, einfach hinzugehen und zu sagen: "Mensch, hör mal. Es tut mir leid. Verzeih mir!" Und wer dann den Mut gefaßt und durch die Kraft des Heiligen Geistes auch ein Wort gesagt hat, der weiß, wie ein solches Wort wirkt, was das tatsächlich bedeutet. Wir, die Orthodoxen, üben immer alles ein. Zu Anfang der Fastenzeit, im Abendgottesdienst, wendet sich der Priester zur Gemeinde und spricht von der Vergebung, dann kniet er vor den Menschen nieder - diesmal mit dem Kopf auf der Erde - und bittet: "Vergebt mit, Brüder und Schwestern, all meine Sünden, was ich an Euch Unrechtes getan habe." Und die Leute auch. Und genau das, was wir nachher zu Ostern machen, daß wir rufen: "Christus ist auferstanden!" und uns umarmen, das machen wir jetzt auch: Die Leute knien voreinander nieder und bitten einander um Verzeihung. Ach, so´n "östlicher Gebrauch". Nein, das glaube ich nicht. Es ist eine ganz wichtige Sache, daß unser Gebet "Gestalt gewinnt" und daß wir auch einmal den Mut haben, so etwas auszusprechen. Aber genauso auch mit dem Bekenntnis, mit dem Glaubensbekenntnis, mit dem "Credo". Auch da ist es so. Das erleben wir bei der Taufe. Wenn ich die Leute taufe - eine Taufe dauert bei uns eine bis anderthalb Stunden, es ist ein langer Gottesdienst, da wird erstmal der Teufel rausgeschmissen und beschimpft, dann wenden wir uns Christus zu und nun wird das Glaubensbekenntnis gesprochen -, sage ich ihnen immer vorher: "Wißt Ihr, das ist ein Bekenntnis. Das braucht Ihr noch nicht ganz zu verstehen, sondern Ihr bekennt Euch jetzt zu Christus mit diesen Worten." Oder, noch besser: Wir bekennen uns zu Christus. Jeder sagt: "Ich glaube..." Bei uns immer noch ganz wichtig: Wir sagen "Credo", also: "Ich glaube." nicht: "Wir glauben." Aber wir sagen es im Chor. Indem wir miteinander sagen "Ich glaube", wird dieser Glaube Wirklichkeit für unser Leben, eine Wirklichkeit, die über unseren Verstand hinausgeht. Natürlich, je häufiger ich das Glaubensbekenntnis bete. . . Ich habe mir das angewöhnt und sage es dem "Volk Gottes", um diesen Ausdruck zu gebrauchen, auch immer wieder: "Betet doch das Glaubensbekenntnis möglichst oft am Tag: morgens, wenn Ihr aufsteht; abends, ehe Ihr Euch ins Bett legt; um Mitternacht, wenn Ihr aufwacht - man schläft gut dabei ein -, dann werdet Ihr einfach erleben, wie das ständige Gebet des Glaubensbekenntnisses Euch reifen läßt, Euch prägt, Euch durchdringt, Euch glücklich macht, Euch selig macht." - um all diese Ausdrücke der Heiligen Schrift zu verwenden. Darin stehen doch auch ganz großartige Dinge: ". . Schöpfer Himmels und der Erden, alles Sichtbaren und Unsichtbaren".

Und jetzt bin ich schon beim Verstand. Ich habe das früher immer etwas oberflächlich gebetet. '......alles Sichtbaren und Unsichtbaren..', nun gut: Menschen und Engel. Daß das Unsichtbare auch in mir ist, war mir gar nicht so klar, aber das ist offensichtlich: Ich habe doch eine Seele. Man kann das auch anders bezeichnen, aber ich bleibe gern bei dem alten Wort "Seele". Die ist nicht körperlich, und die ist auch wirklich. Wenn ich jetzt dort sitzen würde, dann könnte keiner von Ihnen - auch nicht mit den Apparaten der modernen Medizin - feststellen, was in mir vorgeht: ob ich mir einen Baum vorstelle, ob ich ein Gebet spreche, ob ich ein sehr intensives Gefühl habe. Keiner weiß das. Kann man auch nicht feststellen. Also spielt sich hier offenbar schon jetzt - in Ihrem Körper, in meinem Körper, nein: in meinem "Menschsein" - etwas ab, das aus der Welt des Unsichtbaren kommt. Oder: "Um unseres Heiles willen herabgekommen vom Himmel, Mensch geworden vom Heiligen Geist und der Jungfrau Maria". Das ist doch etwas, das man gar nicht oft genug beten kann. Es gibt eine alte Geschichte vom Teufel, der in der Kirche war - ich weiß nicht, wie er dahingekommen ist, aber so wird es erzählt -, und beim Glaubensbekenntnis steht er neben einem Mann, der gähnt. Und der Teufel schlägt ihm auf den Mund und sagt: "Wie kannst Du gähnen, wenn gesprochen wird 'Mensch geworden'? Gott ist Mensch geworden! Stell Dir vor, wie wir tanzen würden in der Hölle, wenn es hieße 'Gott ist Teufel geworden.'!" An dieser Geschichte wird klar, wie ungeheuer das ist, wie man das gar nicht oft genug beten kann und wie man einfach glücklich sein kann über das Bekenntnis. Immer wieder im Bekenntnis "sich Gott zuwenden" und sich tragen lassen, das ist doch eine große Sache.

Gott schenkt uns das Evangelium, Gott schenkt uns das Bekenntnis, Gott schenkt uns die Offenbarung als Gemeinschaft ("Wo zwei oder drei zusammen sind, da bin ICH mitten unter Euch"). Ich erlebe das jedesmal bei einem Vortrag: Ich wundere mich immer, wie fromm ich bin. Das kommt aber einfach daher, weil wir zusammen sind. Wenn ich so ganz allein mit meinem kritischen Verstand darüber nachdenke, muß ich mich auch manchmal "an die Kandare" nehmen, wie meine Mutter sagte, und mich nicht dauernd ablenken lassen und mich Gott zuwenden, aber wenn wir gemeinsam hier sind und Sie mir dankbar zuhören, dann ist das ganz leicht. Glaube, Bekenntnis ist immer etwas, was uns in der Gemeinschaft geschenkt ist. Und darum sollten wir auch immer Gemeinschaft nutzen. Das "bedachte" Gebet - das ist die andere Seite des Themas, von dem wir gesprochen haben. Die deutsche Sprache ist sehr schön. "Bedachtes Gebet" hat mehrfache Bedeutung: ein Gebet, das man 'be-denkt', über das man nachdenkt, und ein bedachtes Gebet, das man eben 'be-dacht' - mit Andacht - spricht. Über das Gebet nachzudenken, ist durchaus nicht schlecht und ist auch manchmal wirklich hilfreich, und da muß man - nein, da darf man - den Mut haben, auch mal zu zweifeln und sich über gewisse Dinge einfach zu wundern und sagen: "Na, ist das denn nun wirklich so?" Aber beim Beten kann man sich auch mit den Worten des Gebetes "in der ganzen Weite seines Daseins" beschäftigen. Entschuldigen Sie das komplizierte Wort, ich mache das einfacher: "Laß doch die Worte des Gebetes 'auf der Zunge zergehen.' (auch so ein deutscher Ausdruck) Laß sie tief in Dein Herz sinken." daß wir beim Beten ganz offen sind und auch ganz aufmerksam zuhören - da sind noch alle möglichen Gedanken, die hin und her laufen, aber die können einen Augenblick schweigen -, daß ich richtig darauf achte, was gesagt wird. "Vater unser, der Du bist in den Himmeln..." - Das ist doch etwas, das man gar nicht oft genug "in sich aufnehmen" kann, daß ich diesen Gott, der mich geschaffen hat und der mich richten wird, als VATER anreden darf. Das bedachte Gebet.

Aber nun kommt manches, das uns gewisse Schwierigkeiten macht. Ich will nur eine einzige Sache erwähnen: das hochzeitliche Gewand. Bei den Gebeten zur Vorbereitung auf das Abendmahl - ich habe sie doch schon einige tausend Mal gebetet, das sind immerhin 20 Seiten, die, und das tun auch viele Gläubige, jedesmal vorm Empfang des Abendmahls gebetet werden sollten - entdecke ich immer wieder etwas Neues. Aber damit auch zum hochzeitlichen Gewand. "Herr, ich habe kein hochzeitliches Gewand. Du wirst mich sicher aus dem Abendmahls-Saal hinauswerfen lassen. Erbarme Dich meiner, schenke mir das hochzeitliche Gewand." Was hat es damit auf sich? Das ist, das wissen und erinnern Sie ja, das Gleichnis vom Hochzeitsmahl. Da wurden Leute von den Straßen, von den Hecken eingeladen, weil die richtigen Gäste nicht gekommen waren, und als sie dann alle am Tisch saßen, kam der Hausherr herein, geht herum, sieht mit einem Mal einen und sagt: "Du hast kein hochzeitliches Gewand an." Der verstummt, und der Herr ist ganz böse und sagt: "Bindet ihm die Hände und Füße, werft ihn hinaus in die Finsternis. Da wird sein Heulen und Zähneklappern." Die Heilige Schrift ist nicht immer so harmlos wie wir uns das vorstellen. Der Mann wird also hinausgeworfen, und nun fragt man sich: "Wie kommt das denn, wie kann das angehen? Das ist doch ungerecht. Die Leute sind alle von der Straße und den Hecken eingeladen worden, und dieser arme Mensch, der wird nun beschimpft." Nein, nein, das ist schon gerecht. Das ist auch etwas, das im . . . Psalm steht: "Herr, Du wirst siegen, wenn . . ." Dann, wenn wir anfangen, über Gott zu meckern - um das wieder auf hamburgisch zu sagen -, dann offenbart sich erst die Größe Gottes, wenn wir den Mut haben, auch weiter zuzuhören. Diese Geschichte erklärt sich ganz einfach: Bei einem Hochzeitsmahl in Palästina - auch weit im Orient - bekommt jeder Gast ein hochzeitliches Gewand, wenn er durch die Tür hereinkommt. Der Hausvater steht da und gibt ihm nicht nur die Hand, sondern auch ein hochzeitliches Gewand. Aus vielen Stellen der Heiligen Schrift können Sie ganz deutlich erkennen, daß das so ist - Naäman, der gute, hat ja auch schon die kostbaren Gewänder für den Propheten mitgebracht - , das ist also alles üblich. Dieser Mann, der kein hochzeitliches Gewand anhatte, hat das nur nicht angenommen. Dem war das nicht gut genug. Dem Mann, der das hochzeitliche Gewand nicht angenommen hat, war das Gewand, das Gott ihm zur Würde beim heiligen Abendmahl gab, nicht gut genug! Kann das möglich sein? Oh, das kann ausgezeichnet möglich sein. Wenn man sieht, wie demütig Gott oft mit uns umgeht. Wir müssen ja nicht gleich eine arme Kirche sein, aber wie manche Dinge manchmal doch ganz armselig bei uns sind, dann will natürlich der, der diesen eleganten Kashmir-Sakko anhat, lieber mit seinem Sakko in die Kirche gehen, als daß er sich nun so ein Gewand geben läßt. Wie dem auch sei, jedenfalls ist es offensichtlich, daß das Gleichnis nur verständlich ist, wenn man nachdenkt. Wenn man erst nachdenkt und denkt: "Das ist doch nicht richtig. Was erzählt der Herr Jesus Christus da?" sich dann informiert, dann erkennt, wie die Sache zusammenhängt und dann begreift, warum der Hausvater so zornig und böse ist: deshalb, weil dieser böse Mensch das hochzeitliche Gewand nicht angezogen hat, das der Hausvater ihm gegeben hat. Für uns ist das hochzeitliche Gewand dargestellt oder verwirklicht sich in der heiligen Beichte. Wenn wir Unwürdigen zum heiligen Abendmahl hinzutreten wollen, dann gehen wir vorher zur Beichte - wie Sie früher auch -, und dann schenkt uns Gott durch den Segen und durch die Lossprechung des Priesters das hochzeitliche Gewand.

Klugheit kann, muß aber keine Störung des Gebetes sein. Und das ist etwas, das ich auch langsam immer besser gelernt habe. Wenn irgendwo in der Heiligen Schrift - ich habe gesagt, ich will keine weiteren Beispiele nennen - mich die Sache etwas verwundert, um es freundlich zu sagen, oder - wie diese Geschichte mit dem hochzeitlichen Gewand - so richtig ärgert, dann fange ich an nachzudenken, auch nachzulesen oder jemanden zu fragen, der davon etwas versteht. Und dann steigt und wächst in mir immer die Bewunderung für die Weisheit und Herrlichkeit Gottes auch im Gebet.

In der Fastenzeit beten wir das Gebet des Ephraim des Syrers - damit wollen wir diese Überlegung erst einmal abschließen -, das ist ein ganz interessantes Gebet, weil es nämlich von Tugenden redet. Aber ich will es Ihnen erst einmal sagen: "Herr, Gebieter meines Lebens, den Geist des Müßigganges, der Verzagtheit, der Herrschsucht und der Schwatzhaftigkeit nimm von mir. Den Geist aber der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe gib mir, Deinem Kinde. Herr, gib mir Erkenntnis meiner Sünden und laß mich nicht meinen Bruder richten, denn Du bist hochgelobt in alle Ewigkeit." - Ein Gebet von einer erstaunlichen Weisheit! Müßiggang, Verzagtheit, Herrschsucht, Schwatzhaftigkeit - wir beten das in der Fastenzeit jeden Tag etwa fünf- bis sechsmal, also sehr häufig, und langsam sinkt das in uns hinein, so daß wir spüren, was da geschieht.

Verzagtheit ist etwas, das uns oft überfallen kann, daß man sagt: "Ach, Mensch, die Welt ist doch zu schrecklich." Und: "Wie kann Gott uns so etwas antun?" Und: "Warum stirbt der?" Und: "Warum hat der so viel Pech?" Und: "Ach, das ist doch alles ganz traurig in dieser Welt." - Ja, da muß man Gott wirklich bitten: "Den Geist der Verzagtheit nimm von mir, daß ich zuversichtlich werde."

Müßiggang ist etwas, was der moderne Mensch meines Wissens zum ersten mal in der Geschichte erlebt - ist nicht ganz wahr: Früher waren es die Reichen, die 'nicht Arbeitenden', wie bei Dostojewski. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, daß bei Dostojewski kein Mensch arbeitet. Da wird nur diskutiert, gemordet und geliebt. Ich sage das jetzt ein bißchen sehr grob, aber es ist wirklich erstaunlich, daß bei Dostojewski die Arbeit eben nicht vorkommt. Deshalb haben die Reichen immer solche Schwierigkeiten gehabt, und jetzt haben sie auch die Arbeitslosen. Das war auch das Erstaunliche der großen Arbeitslosigkeit 1929-33, da waren die Arbeitslosen viel "glücklicher" als heute, weil sie nämlich nicht so viel Unterstützung bekamen. Sie mußten sich Tag und Nacht darum bemühen, ein kleines Stück Brot und ein bißchen Kohle zum Heizen zu bekommen. Heute haben die wirklich Müßiggang. Und nun - obwohl es ihnen ganz gut geht, sie auch Auto fahren (das muß allerdings auf die Freundin zugelassen werden, sonst gibt es keine Unterstützung, aber das läßt sich ja alles regeln) - spürt man plötzlich in unserer Welt, was Müßiggang bedeutet und daß eben Tätigkeit, schöpferische Tätigkeit - ich will nicht unbedingt das Wort 'Arbeit' gebrauchen -, auch diakonische, karitative Tätigkeit zum Wesen des Menschen gehört. Wer nichts tut - das habe ich schon einmal beschrieben -, dessen Seele verkommt.

Herrschsucht - das ist etwas, bei dem man gar nicht genug beten kann, davon befreit zu werden. Wir sind natürlich alle demütig, das weiß ich auch, aber die Herrschsucht schlägt, finde ich, immer wieder durch. Irgendwann denkt man, man muß doch mal zeigen, . . . Schwatzhaftigkeit. Jedesmal, wenn ich das Gebet heute morgen gesprochen und an diesen Vortrag gedacht habe und auch: Wie bemühe ich mich, etwas Vernünftiges zu sagen? . . . Es gibt ein altes griechisches Wort: "Es ist sehr schön, viele Dinge mit wenigen Worten zu sagen." Aber wir sind eben die "Viel-Wortler", die "Viel-Wort-Gebraucher".

Zuerst habe ich eigentlich Keuschheit im Beten gelernt - ich meine nicht die Keuschheit meines Lebens, die wird mir Gott schenken, sondern was das bedeutet. Wir sind doch alle modern, aufgeklärt. "Das ist ja alles nicht mehr so ernst gemeint. Der heilige Apostel Paulus war ein bißchen rückständig". Nein, nein: Wenn man mit der Keuschheit im Gebet umgeht, dann spürt man plötzlich, was das bedeutet, "ganz und gar offen zu sein für Gott", für einen Menschen da zu sein in der Liebe, für Gott, für den Einen Gott, den Einen Herrn da zu sein, was Keuschheit einfach bedeutet: daß ich nicht ständig - ich bin schon wieder beim Anfang meines Vortrages - von tausend Gedanken und Gefühlen abgelenkt werde, daß ich wirklich "in einfacher Eindeutigkeit" mich Gott zuwende. Und wer das oft betet, der hat auch dann, wenn er verheiratet ist, ein wirklich gutes Gespür dafür, daß die Vollendung des Menschen der Mönch und die Nonne sind, daß dann, wenn der Mensch sich von allem lossagt - wie der heilige Apostel Paulus, der "Rückständige", ja auch sagt -, er sich wirklich ganz und gar Gott zuwenden kann.

Demut - das ist etwas, was auch im Gebet uns immer wieder von Gott geschenkt werden kann, wofür wir auch sehr dankbar sein dürfen.

Geduld. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, daß der Merphisto den Faust zunächst für sich gewinnt, indem er sagt: "Geduld? Damit muß mal zu Ende sein!" Geduld ist etwas, das wir gerade in unserer Zeit lernen können.

Und all das vollendet sich in der Liebe. So ist das Gebet und das ständige Gebet und die Offenheit unseres Herzens für Gott die eigentliche Kraft, die uns miteinander verbindet, weil Gott uns liebt .

Dr. A. Backhaus • Schwanenwik 31 • 22087 Hamburg

Heil, Heilung, Krankenölung Haben wir vor Gott einen Anspruch auf Gesundheit und langes Leben? Berneuchener Dienst, Hamburg, 19.6.1993

Liebe Brüder und Schwestern, vielen Dank für die Einladung. In dem Gebet an den Heiligen Geist, das jeder orthodoxen Zusammenkunft und jedem Gottesdienst vorausgeht, heißt es: »Himmlischer König, Tröster, Geist der Wahrheit, der Du überall bist und alles erfüllst, Schatz der Güter, Spender des Lebens - komm und wohne in uns und reinige uns von aller Befleckung und rette, Gütiger, unsere Seelen.«

Da wird der Heilige Geist gemäß der Heiligen Schrift als: »Der Spender des Lebens« bezeichnet. (Joh. 6,63; l.Kor. 15,45; 2.Kor. 3,6)

Wenn wir uns mit Gesundheit und Krankheit beschäftigen, dann steht dahinter die Frage, die alle Wissenschaft nicht hat wirklich beantworten können, was eigentlich das Mysterium, das Geheimnis des Lebens ist. Das Erstaunliche für uns Menschen, für die Bäume, für die Tiere ist, dass es sich um ein lebendiges Wesen handelt, dessen Gestalt zwar erhalten bleibt, dessen Bestandteile aber ständig wechseln, so dass wir wissen, dass die Atome und Moleküle unseres Körpers selbst die Kalziumatome unserer Knochen, immer wieder ausgetauscht werden, so dass wir vor einem halben Jahr völlig anders zusammengesetzt waren als heute. Das bedeutet, dass etwas Geheimnisvolles, etwas Strukturgebendes uns erhält; und dieses Gebet sagt, wie die Heilige Schrift, dass aus dem Heiligen Geist das Leben hervorgeht.

Krankheit ist nicht unmittelbar und notwendig etwas, was wir negativ erleben, dem wir zu entfliehen suchen; Krankheit ist nach der Auferstehung des Herrn Jesus Christus keine Strafe Gottes, sondern eine Anrede Gottes. Gott redet uns durch die Krankheit an, wie das schon Hiob erfahren hat nach den Berichten des Alten Testamentes; noch für das Buch Sirach im 38. Kapitel ist es ganz selbstverständlich, dass Krankheit Folge der Sünde ist, dort heißt es: »Mein Kind, begehe keine Sünde, damit du dem Arzt nicht in die Hände fallen musst.« (frei nach Sirach 38,15; auch Hes. 18,4)

Anders wird es, als der Herr Jesus Christus dem Mann begegnet, dem Blindgeborenen, und die Jünger in berechtigter Erinnerung an die Worte des Alten Testamentes fragen: Wer hat gesündigt? Dieser Mann selbst, seine Eltern? Der Herr sagt - ich meine, fast unwillig - zu ihnen: »Niemand hat gesündigt.« (Joh. 9,3; auch 11,15). Diese Krankheit ist, dass die Herrlichkeit, (die Werke) Gottes an ihm offenbar werde (Joh. 9,3). Mit Jesus Christus ist alles auf Zukunft gerichtet. Da wir dem Herrn in der Gegenwart unseres Lebens und unseres Sterbens begegnen, ruft Er, führt Er, zieht Er uns in Seine Gegenwart und aus dieser Gegenwart in die Zukunft. Krankheit geschieht heute nicht als Bestrafung des Sünders, sondern dass die Herrlichkeit Gottes offenbar werde. Das trifft nicht nur für den Blindgeborenen zu, sondern wird auch uns geschenkt; und es bleibt der Herr und Gott, der wahre Arzt, wie im zweiten Buch Moses, im fünfzehnten Kapitel, Vers 26, steht: »Ich bin dein Gott, dein Arzt.«

Zur Beruhigung der Ärzte fährt dieser Satz nicht fort: »du sollst keine anderen Ärzte haben neben mir«, wie es in anderen Fällen ist, sondern das Buch Sirach sagt ausdrücklich: »Wenn du kannst, so rufe den Arzt zu dir, vorher aber bete, befreie dich von deinen Sünden, und auch der Arzt wird solches tun.“ Das geschieht - glaube ich - auch heute sehr viel häufiger als wir eigentlich vermuten, dass auch die Ärzte Gott anrufen, wie es schon im alten Rom vorgeschrieben war. Das »Rp«, das auf den Rezepten steht, heißt ursprünglich nicht: rezipe - nimm - wie man heute deutet, sondern ist das Zeichen des Jupiters. Die Ärzte in Rom waren verpflichtet, vor dem Aussschreiben eines Rezeptes den Jupiter anzurufen und deshalb jedes Rezept mit dem Zeichen des Jupiters zu überschreiben. Es würde heute seltsam wirken, wenn ein Arzt ein Kreuzeszeichen auf das Rezept macht, aber diese Anrufung Gottes geschieht, weil unser Handeln an Kranken, mit den Kranken, gegen die Krankheit ein Handeln ist, das in der Geborgenheit Gottes geschieht, weil Er allein als der Lebensspender und Lebensschöpfer uns die Kraft geben kann, die Krankheit zu wenden.

So heißt es im Jakobusbrief, der als Grundlage der Krankenölung bezeichnet wird: »Brüder, als Vorbild im Leid und in der Geduld nehmt die Propheten, die im Namen des Herrn gesprochen haben: Siehe wir preisen sie selig, die, die ausgeharrt haben. Ihr habt gehört von der Geduld des Hiob und habt den Ausgang vor Augen, den ihm der Herr verliehen, denn voller reichen Erbarmens und Mitleids ist der Herr. Hat einer Leid unter euch, soll er beten; hat er Freude, soll er lobsingen. Ist jemand krank unter euch, so lasse er die Priester der Kirche kommen, so dass sie über ihn beten, ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. Das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben werden. Bekennet einander eure Sünden und betet für einander, damit ihr geheilt werdet. Denn viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten.« (Jak 5,10-16, sinngemäß)

Der heilige Apostel schreibt nicht, dass durch das Gebet der Kirche bei jedem und immer eine medizinische Heilung eintritt, sondern er sagt, Gott wird die Kranken aufrichten. An einer anderen Stelle sagt der Herr selbst, von der Fähigkeit, von der Vollmacht der Jünger auf Schlangen zu treten, Tödliches zu trinken, und den Kranken die Hände aufzulegen, dass das Zeichen sind; »solche Zeichen werden euch folgen« (Mark 16,17). Das heißt, jede Heilung eines Kranken, wie auch jedes andere wunderbare Eingreifen Gottes in diese Welt, ist ein Zeichen für die Herrlichkeit, für die Auferstehung, für die Liebe Gottes.

Deshalb gibt es keinen mechanischen Zusammenhang, und die Vorstellung, dass Sakramente, Gebete wirkten wie Magie oder als mechanisches Geschehen, ist offenbar weit entfernt von der Wirklichkeit, es ist immer der liebende, allwissende Gott, der an uns handelt und der durch Zeichen deutlich macht, dass Er ein Gott ist, der Wunder tut. So heißt es in den Psalmen: »Unser Gott ist ein großer Gott, ein Gott, der Wunder tut«. Dieses Prokimen ist ein kurzer Gesang aus dem siebenundsiebzigsten Psalm, der am Ostersonntag beim Abendgottesdienst gesungen wird, und in anderen besonders feierlichen Augenblicken. Dieser Vers weist darauf hin, dass alle unsere Versuche, Gottes Handeln zu erklären, letzten Endes an dem Wichtigsten und Entscheidensten vorbeigehen, dass unser Gott ein Gott ist, der Wunder tut. In den Gesängen der Kirche heißt es auch: »Er besiegt die Gesetze der Natur.«

Der Mensch, schon zur Zeit des Celsus, 178 nach Chr., versucht alle Dinge, die Gott tut, in den Rahmen und das System seiner Weltanschauung, seiner wissenschaftlichen Kenntnisse, einzuordnen und bemüht sich z.B. auf komplizierte Weise, die Jungfrauengeburt als doch auch möglich hinzustellen oder abzulehnen, ohne zu erleben, dass gerade in diesen Handlungen Gottes Wunder geschehen. »Er besiegt die Gesetze der Natur«, Er führt uns aus der Vergänglichkeit in die Unvergänglichkeit, aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit.

Das ist die Erfahrung der Kirche. Oft wird darüber geklagt, dass es so schön gewesen sei, als Jesus Christus in Palästina über die Straßen ging, dass damals wirklich alle geheilt wurden. Es ist richtig, es wird berichtet, nachdem der Herr gepredigt hat, kamen die Kranken zu Ihm und Er heilte sie alle. (Matth. 14,36). Aber Er sagt selbst, dass keineswegs alle geheilt werden, sondern nur die, die Ihm dort entgegenkommen, die bei Ihm sind; während viele andere nicht geheilt werden, und der Herr erinnert uns daran, dass eine solche Heilung ein Zeichen ist. Trotzdem ist es kein Zweifel, dass in unserer Zeit rein zahlenmäßig viel mehr wunderbare Heilungen geschehen als wir vermuten. Gerade die kritische moderne Wissenschaft, wie in Lourdes oder in Fatima, hat die Heilungen überprüft, bestätigt uns ausdrücklich, dass dort etwas geschieht, was über menschlichen Verstand und über menschliche Fähigkeiten hinausgeht, so dass es dem Arzt wohl ansteht, dem sogenannten »unheilbaren Kranken« nicht zu sagen, du bist unheilbar, sondern ihm zu sagen, meine ärztliche Kunst ist nicht in der Lage, dir eine Heilung zu versprechen. Der, der heilt, ist immer der Herr selbst. Der das Leben schenkt, ist der Heilige Geist; und wir können nur in der Praxis unseres Lebens überschauen, was wir aus der Erfahrung der Geschichte und der Wissenschaft den Kranken versprechen können, aber niemals von einer unheilbaren Krankheit reden.

Das Erstaunliche aus meiner eigenen Erfahrung ist, dass oft der Ungeheilte nach der Krankenölung sehr viel glücklicher ist als der Geheilte. Als ich die erste erstaunliche Heilung nach einer Krankenölung erlebt hatte bei einem inoperablen und metastasierenden Karzinom, dachte ich, die Welt würde sich verändern. Der Kranke, der jetzt Gesunde, würde ein anderer werden, die Gemeinde, die das miterlebt hatte, die Krankenölung fand in der kleinen Nikolaikirche am Böhmersweg in Hamburg statt, würde jetzt eine Gemeinde der Erweckten, der Versöhnten, Friedfertigen sein. Dieses Ereignis, eine wunderbare Heilung, war nach spätestens einer Woche vergessen. Davon ging überhaupt keine erweckende, versöhnende, erleuchtende Wirkung auf die Gemeinde aus. Sie fanden das sehr interessant, waren auch sehr begeistert, aber sie stritten sich genauso, wie sie sich vorher gestritten hatten. Es änderte sich eigentlich nichts; und auch für den Kranken, auch der wurde nicht ein neuer Mensch, der wurde kein Apostel des Glaubens, nicht Tag für Tag brachte er sein Lobopfer Gott dar für die erfolgte Heilung, sondern alsbald ging er seinen Geschäften nach und seinem üblichen Lebenswandel, den er immer schon gehabt hatte.

Während ich umgekehrt eine ganze Reihe Krankenölungen erlebt habe, die nicht zu einer medizinischen Heilung führten, aber der Kranke wurde aufgerichtet und er wurde oft zum Mittelpunkt der Gemeinde. Zu seinem Krankenbett, an das er gefesselt war - ich habe mehrere vor Augen - zu seinem Krankenbett kamen die Leute, bei ihm fand Versöhnung statt, er sagte das Evangelium weiter und er schenkte Ruhe und Frieden und Zuversicht den Menschen, die zu ihm kamen, so dass sich hier die Krankheit erwies als der Weg Gottes zu Seiner Herrlichkeit.

Gott tut Wunder und tut Zeichen. Das größte Zeichen ist nicht das körperliche, sondern das größte Zeichen ist, wenn der Mensch erleuchtet wird, das Evangelium weiter zu sagen.

Die Krankenölung heißt: soborowanie, es kommt von dem Wort: zusammensammeln. Es ist eine Gemeinschaftshandlung, darin wird deutlich, was eigentlich selbstverständlich ist, der Fluch der Krankheit ist die Vereinsamung des Menschen. Ich kann erinnern, als ich hier noch in diesem Hause als kranker Student lag, mit welchem Bedauern ich die U-Bahn habe vorbeifahren sehen, zu der ich sonst nicht so gerne früh aufgestanden war, aber mit einem mal ist man herausgenommen, die Krankheit reißt uns aus dem alltäglichen Stress heraus und wir fühlen uns vereinsamt, und die Schwierigkeit für uns Menschen liegt darin, dass wir das Wort des Herrn, dass wir Kranke besuchen sollen, nicht so leicht erfüllen, weil uns Krankheit überhaupt unsympathisch ist, weil die ganze Atmosphäre des Krankenzimmers uns bedrückt, aber auch, weil wir nicht wissen, was wir mit dem Kranken, besonders mit dem Schwerkranken, sprechen sollen.

Es ist manchmal sehr makaber, wenn ein Mensch, der tatsächlich wenige Tage danach stirbt, mit uns über die nächste Urlaubsreise spricht, und wer ihn dann vertreten könnte, es ist unnatürlich, am Krankenbett die gleichen Gespräche zu führen, wie wir sonst geführt haben. Der Tod ist immer hinter der Krankheit; und so ist das Grimm'sche Märchen von großer Weisheit, wo der Tod dem Menschen verspricht, ihn nicht vor dem Sterben zu bewahren, aber ihm rechtzeitig Mitteilungen zu machen. Der Tod wird von dem Menschen im Märchen zerschlagen im Graben gefunden, der Mensch pflegt den Tod, bis er wieder gesund ist, - sehr unvernünftig natürlich - und als er sich dann vorstellt, sagt der Tod, ich werde dir rechtzeitig Bescheid sagen. Als der Tod nun kommt ihn zu holen, da ist er ganz empört, »du hast dein Versprechen nicht gehalten«; »doch, sagt der Tod, ich habe dir meine Krankheiten geschickt, jede Krankheit hat dich daran erinnert, dass du sterben wirst.« - Darin liegt das Geheimnis des Gespräches am Krankenbett, dass man nicht erst beim Schwerkranken, sondern bereits bei der ersten leichten Grippe schon vom Tode redet. In der Krankheit ist der Tod verborgen und der Tod ist nicht das schreckliche Ende des Lebens, sondern er ist das Tor zum Leben, der Tod ist der Augenblick, wo der Herr Jesus Christus sein Versprechen der Taufe einlöst und uns das Ewige Leben, das unzerstörbare Leben, das wir in der Taufe empfangen haben, erfahren läßt. Wir treten Ihm entgegen, je mehr wir vom Tode reden, je mehr wir ein fröhliches Gespräch vom Tode zu führen vermögen, um so leichter fällt es uns auch, mit dem Kranken zu sprechen.

Weil nun die Vereinsamung des Menschen ein Fluch der Krankheit ist, darum soll die Krankenölung nach Möglichkeit von mehreren Priestern zusammen - sieben -ausgeführt werden, damit dadurch die Gemeinschaft sichtbar wird. Die Krankenölung kann überall gespendet werden, aber wenn es geht, in der Kirche, Die Gemeinde soll anwesend sein, damit wirklich dieses Wiederaufgenommenwerden des Kranken in die Gemeinschaft deutlich sichtbar wird; und so heißt es in den Gebeten: Herr, richte ihn auf, damit er Dir rechten Lobpreis darbringen kann.

Das Ziel menschlichen Lebens ist das Gebet und der Lobpreis Gottes, auch das vergessen wir immer wieder und meinen, es gäbe viele andere Ziele, die wir als übliche menschliche Ziele und Sinngebungen vor Augen haben; die sind alle vergänglich. Das einzige Ziel, der einzige Sinn, die einzige Vollmacht unseres Lebens, ist das Gebet und der Lobpreis Gottes in der Gemeinschaft der Kirche und in dem stillen Kämmerlein; dazu wird der Mensch wieder aufgerichtet, darum beten wir: »vor allen Dingen...« in der Krankenölung. Das ist nicht unberechtigt, man sagt: Krankheit lehrt beten. Aber es ist nicht selbstverständlich. Krankheit kann einen Menschen so sehr ergreifen, in Schmerzen, in Bedrängnis, so sehr ergreifen, dass er gar nicht mehr zum Beten fähig ist. Deshalb bedarf es der Aufrichtung, sicher auch der Kunst des Arztes, dass er die zerstörerischen, die Kommunikation mit Menschen, die Kommunikation mit sich selbst, Gebet zu Gott, unmöglich machenden Schmerzen durch entsprechende Mittel von dem Kranken nimmt, damit er wieder frei wird in seiner Krankheit, seine Hände zu Gott zu erheben. Das Gebet, der Lobpreis ist das Ziel unseres Lebens; und es bedurfte auch für mich vieler Jahre und Jahrzehnte um das immer deutlicher zu begreifen. Bei aller Freude über die Schönheit der Welt und über die Gemeinschaft der Menschen, bleibt doch das eigentliche Herrliche, unsere Begegnung mit Gott, dass wir unsere Herzen und Hände Ihm entgegenstrecken und spüren, in der Weisheit unseres Herzens spüren: Seine Gegenwart.

Gemeinschaft wird uns geschenkt; aber nicht nur Gemeinschaft mit Menschen, sondern auch Gemeinschaft mit der Welt, wie sie durch das Öl dargestellt wird. Was die Wissenschaft weiß, wusste die Heilige Schrift schon sehr viel früher, dass der Mensch angewiesen ist auf die Umwelt. Wir atmen, wir essen und trinken, wir sind darauf angewiesen, das uns etwas zugeführt wird. Wie wir heute wissen, ist das nicht die materielle Nahrung, sondern auch die Liebe, die uns zugewandt wird, auch das gehört dazu, damit wir gesund sind, damit wir zu leben vermögen. Kinder, die keine Liebe erfahren, sind auch in ihrem Leben gefährdet, aber es gehört zur Seltsamkeit, zur seltsamen Weisheit Gottes, zu seiner Haushalterschaft, dass er uns so geschaffen hat, dass wir in diese Welt, erst in dem Garten des Paradieses und jetzt in unsere Welt, hinein gehören und aus dieser Welt Dinge zu uns nehmen - schon im Paradies, (1. Mos. 2,9) - und dieses Angewiesensein auf Essen und Trinken wird auch im Neuen Jerusalem erhalten, dort heißt es: dass an den Bäumen, die an den Strömen stehen, die aus der Stadt in die Welt fließen, die Früchte zur Nahrung und die Blätter zur Gesundheit der Völker dienen. (Offb 22,1).

So auch mit dem Gewand: Der nackte Mensch des Paradieses (1. Mos. 3,7) wird zum bekleideten Menschen (Offb 12,1) des Neuen Jerusalems. Wenn der Herr sagt, dass Er, wenn Er wieder kommen wird (Matth. 26,20), mit uns das Abendmahl halten wird, ist deutlich, dass Essen Ausdruck der Gemeinschaft ist, ein Ausdruck der Gemeinschaft, die über das hinausgeht, was unseren begrenzten Körper und unsere begrenzte Seele ausmacht.

Gleichzeitig verbindet uns das Öl der Salbung mit der ganzen Geschichte Gottes. Wir erinnern uns an den Ölzweig (1. Mos. 8.11), den die Taube Noah brachte als Zeichen der Versöhnung; sie erinnert uns daran, das die Könige und Hohenpriester gesalbt wurden. (3. Mos. 21,10; 2. Mos. 29,7; PS. 133,2). Wenn heute der Priester seine Stola anlegt, dann denkt er an die Gnade Gottes, die wie das Öl, das über Aaron herabfloss bis zum Saum seines Gewandes, ihn im Zeichen der Stola, im Zeichen des Epitrachilions, wie ein Öl der Gnade umgibt.

Bei der Weihe des Öles gedenken wir dieser Ereignisse, wobei Weihe nicht bedeutet, dass dem Öl etwas Neues hinzugefügt wird, sondern im Gegenteil, dass das Öl seine eigene ihm innewohnende, von Gott geschaffene Herrlichkeit voll entfaltet. In der Weihe eines Dinges, wie hier des Öles, sagen wir uns einmal los von unserer Einbildung, dass uns Dinge gehörten. Wir geben das Öl wieder Gott zurück, Dem es eigentlich gehört. Wir sind nur die, die es benutzen dürfen. Zugleich entfaltet das Öl seine heilende und heilsame Kraft in dem Segen des Herrn.

So ist es auch mit der Medizin. Im Buche Sirach, achtunddreißigstes Kapitel, heißt es: nachdem der Arzt gekommen ist, wird er dir Arznei geben, die der Apotheker (Sir. 38,7) in kluger Weise aus den Dingen der Schöpfung zubereitet. Der Kranke ist auf Arznei angewiesen. Vor allen Dingen auf die Arznei der Liebe, aber auch auf die Arznei aus der Schöpfung, aber auch hier bedarf es des Gebetes, des Vertrauens auf Gott, des Empfangens auch des materiellen Arzneimittels aus der Hand Gottes, damit es seine wirkliche heilsame Kraft entfalten kann.

Siebenmal wird der Kranke gesalbt von sieben Priestern nach einander, wenn so viele da sind, es kann auch einer alleine tun, siebenmal wird Evangelium gelesen, siebenmal wird ein Apostel gelesen. Mit diesen Evangelien, nicht mit allen, wollen wir uns jetzt beschäftigen.

Das erste Evangelium scheint uns seltsamerweise oder natürlicherweise im ersten Augenblick sehr angemessen: der barmherzige Samariter. Das passt sehr gut. Aber schon beim barmherzigen Samariter, beim Gleichnis vom barmherzigen Samariter vergessen wir immer die Einleitung. »Meister, was muss ich tun, um das Ewige Leben zu erwerben?« (Luk.10,25) Das ist die Frage, die an den Herrn Jesus Christus gestellt wird; und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist nur ein Gleichnis, in dem uns deutlich gemacht wird, was geschehen kann, wozu wir bevollmächtigt und verpflichtet sind, damit wir das Ewige Leben erwerben.

Die Krankheit ist eine Anrede Gottes, die uns aufruft, uns Gott zuzuwenden auf dass wir das Ewige Leben erwerben, die uns aufruft, uns Gesunde aufruft, in der Barmherzigkeit und Liebe zu dem Kranken, der uns zum Nächsten wird, das Reich Gottes zu verwirklichen. Darum wird dieses Gleichnis mit der Einleitung als erstes Evangelium gelesen. Natürlich wird auch hier Öl und Wein erwähnt. Auch Paracelsus berichtete in den großen Schlachten seiner Zeit, dass die Wunden mit Wein ausgewaschen wurden, zur Desinfektion - würden wir heute sagen - und dann mit in Öl getauchten Tüchern verbunden wurden. Eine uralte schon bei den Griechen und Ägyptern natürliche Methode, so dass hier offenbar das Öl ein uraltes Pharmakon, ein uraltes Heilmittel ist. Aber das Entscheidende dieses Gleichnisses ist nicht die Heilung des Kranken, der unter die Räuber gefallen ist, sondern der Weg, den der Samariter mit dem Zerschlagenen zurücklegt in die Herberge. Die Väter haben gesagt, die Herberge ist die Kirche, die beiden Dinare sind Taufe und Abendmahl, und so vertraut er den Kranken der Kirche an, auf dass er dort geborgen und gepflegt wird, bis der Herr wiederkommt, um ihn in die Herrlichkeit zu führen. Auch das macht schon deutlich, dass Krankheit und Handeln an Kranken und mit den Kranken immer auf Ewigkeit hin gerichtet ist.

So hat auch schon Johannes Chrysostomos gesagt: Mag der Herr dich auch von schwerer Krankheit durch wunderbares Eingreifen heilen, so gehst du doch dem Tode entgegen. Die Heilung ist immer nur ein vorläufiges Ereignis, nun kann man auch rein praktisch sagen: Je mehr ich mich loslöse von dem einseitigen, fanatischen Verlangen nach Gesundheit, um so glücklicher werde ich.

Das beginnt schon im Schmerz einer Krankheit; eine Krankheit, die uns überfällt, die uns weh tut mit Fieber und Schüttelfrost, Krämpfen und ähnlichem, verliert ihren Schrecken, wenn wir uns geduldig ihr ausliefern. Wenn wir Gott danken, dass Er uns auf diese Weise so handfest anfasst, wenn wir spüren, dass die Krankheit nicht die Schläge des Teufels sind, sondern dass es die liebevolle Hand Gottes ist. Wie Pascal gesagt hat und auch die Väter schon gesagt haben, Gott ist wie eine Mutter, die das Kind aus den Händen der Räuber herausreißt; das Kind schreit, weil es ihm weh tut, die Mutter zieht das Kind mit aller Macht heraus und befreit es aus der Macht der Räuber, das tut weh, darum schreit das Kind; aber die Mutter tut es aus Liebe, um das Kind zu heilen, ihm das Heil zu geben; und so auch wir. Wir sind in Sünde gefallen, die hält uns fest, wie die Räuber das Kind festhalten, und Gott reißt uns aus der Macht der Sünde heraus durch viele Ereignisse, aber auch durch die Krankheit.

»Alles Gute, vor allen Dingen Gesundheit« muss immer noch einen Nachsatz haben; auf das Gottes Herrlichkeit offenbar werde; sonst könnte es heißen: lieber gesund in die Hölle als krank in den Himmel. Auch ich habe immer wieder Missgeschick, Unglück, Krankheit - rückblickend - nicht gleich im Augenblick, rückblickend erlebt als ein Ereignis, in dem Gott mich ruft, mich wieder auf den rechten Weg bringt.

Das eigentliche Geheimnis der Krankenölung ist die Vergebung der Sünden, nicht die Heilung von Krankheit.

Sünde ist nicht Ursache der Krankheit. Krankheit gibt es nur in der Welt, in der Sünde ist, in der Welt des Neuen Jerusalems, in der Welt des Paradieses, da die Sünde keine Macht hatte, gab es keine Krankheit und wird es keine Krankheit geben. »Ich werde abwischen alle Tränen von ihren Augen.« (Jes. 25,8) Aber unsere Welt, in der die Sünde - nicht mehr so richtig mächtig, aber doch ausreichend kräftig - eine Rolle spielt, ist eine Welt der Krankheit. Das bedeutet, dass Krankheit in irgendeiner Weise mit Sünde zusammenhängt.

Nicht so, wie wir gerne möchten, mit, persönlicher Schuld: »der hat es ja auch verdient.« Niemand hat es verdient, Hiob hat es auch nicht verdient. Gott straft nicht mehr, Gott ruft uns zum Heil; wie die Mutter das Kind aus den Armen der Räuber reißt, auch auf schmerzliche Weise, und Der, Der seinen Sohn für uns hat ans Kreuz gehen lassen, im schrecklichen Sterben der Kreuzigung, hat uns Heil und Auferstehung geschenkt und lässt uns daran teilhaben, so dass wir allen Schmerz und alle Krankheit dankbar annehmen dürfen, aus der Hand Gottes, als Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus.

Sünde wird in der Kirche auf vielfältige Weise vergeben.

In der Taufe:
In der Taufe zerbricht die Urmacht der Sünde. Der Getaufte ist frei von der Gewaltherrschaft des Teufels; wie es sowohl in den Gebeten der Krankenölung wie in den Gebeten der Taufe heißt: frei von der Gewaltherrschaft des Teufels. Der Teufel kann uns noch verführen, er tut es auch, aber er kann uns nicht mehr zwingen. Wir sind die Freien, wir sind die Kinder Gottes; nicht die Sklaven. Wir sind frei geworden, uns von der Sünde zu lösen, gegen die Sünde zu kämpfen, zu beten: »führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Bösen«. Wir sind frei geworden. Wenn man die Geschichte betrachtet, habe ich schon den Eindruck, in den Zeiten vor der Auferstehung des Herrn Jesus Christus war die Welt dunkler. Hippokrates sagt zu den Ärzten: Wenn du in das Haus eines unheilbar Kranken kommst, verlasse ihn sobald du irgend kannst, damit dein Ruf nicht Schaden nimmt. Ähnliche Texte gibt es in der chinesischen Medizin. Und dass es heute für den Arzt, ob Christ oder Atheist, ob Buddhist oder Hindu, völlig selbstverständlich ist, auch den unheilbaren Kranken zu behandeln, meine ich, ist eine unmittelbare Folge dieser Zerstörung der Sünde in ihrer schrecklichen Macht. Und wenn Sie die assyrischen Siegesdenkmäler betrachten, dann sehen Sie dort, die Gekreuzigten, Gefangenen, die Gefolterten, die Erschlagenen als Sieges-denkmäler aufgestellt. Unsere Welt ist zwar nicht besser geworden, aber niemand würde heutzutage noch auf die Idee kommen, sein Siegesdenkmal mit den Grausamkeiten, die seine Soldaten im Kriege ausgeführt haben, zu schmücken.

So gibt es viele unscheinbare, aber doch - meine ich für mich - sehr eindrucksvolle Zeichen, dass es kein Gerede ist, dass die Macht der Sünde zerbrochen ist. Darum heißt es auch im »Vater unser« »Übertretungen«, »vergib uns unsere Schuld«: heißt: unsere Übertretungen, opheil- émata, debita, trespasses, debts. Das sind unsere Sünden, das ist Abweichen, wie es auch in dem Wort: amartia steckt, »am Ziel vorbei schießen«, das Abweichen von dem Ziel unseres Lebens. Das heilt die Beichte, das Gespräch, das ärztliche Gespräch, wo Gott durch den Priester mit uns redet, um uns vor allen diesen Übertretungen, Gesetzesabweichungen, diesem Abfall vom rechten Wege zu heilen und uns einen Weg der Heilung zu öffnen.

Sünde wird vergeben durch den Empfang des heiligen Abendmahles, im tiefsten Grund unseres Daseins: »Esset und trinket zur Vergebung der Sünden.« Das, was in der Taufe grundgelegt wird, was uns in der Beichte geschenkt wird, das hochzeitliche Gewand, mit dem wir in die Gemeinschaft des Abendmahles eintreten, wird im Abendmahl, im tiefsten Grunde unseres Daseins verwirklicht. Durch den Empfang des Heiligen Leibes und Blutes des Herrn Jesus Christus werden wir befreit, geheilt von den Sünden. (Matth. 26,28)

Die Krankenölung ist eine ganz besondere Art mit der Sünde umzugehen, hier handelt es sich um die Sünde, die wir nicht in Worte fassen können. Das ist unsere Schwierigkeit, unsere Schwierigkeit von unseren Sünden zu Gott zu reden; weil wir nicht so recht wissen; was eigentlich Sünde ist; weil wir nicht wissen, ob diese oder jene Tat, dieser und jener Gedanke eine Sünde ist oder nicht; weil wir vieles nicht in Worte fassen können; »sündig bin ich Herr, sündig«, ohne Zweifel, und trotzdem wird man immer wieder erleben, dass jemand in der Beichte sagt, »ich weiß nicht, was ich beichten soll, das einzige was ich beichten kann, ist, dass ich unzufrieden bin.«

Aber hier in der Krankenölung schenkt uns der Herr die Heilung von den verborgenen Sünden, die wir nicht mit unserem Verstand fassen können. Deshalb ist die Krankenölung auch eine Sündenvergebung am Bewusstlosen. Sie ist nicht die letzte Ölung, die auch im Westen erst im zweiten Jahrtausend zu diesem Ruf gekommen ist. Zum Teil deshalb, weil die im ersten Jahrtausend, auch in der katholischen Kirche, sehr viel häufiger durchgeführte Krankenölung immer kostspieliger wurde. Infolgedessen schob man die Krankenölung immer weiter auf, eben bis kurz vor dem Tode, weil man sich offenbar sehr bewusst war, dass die Krankenölung nicht nur Heilung, sondern vor allen Dingen Vergebung der Sünden schenkt.

Es wurde erzählt, dass im Mittelalter der Priester für eine Krankenölung einen Ochsen bekam, und das konnten sich die Leute nicht oft leisten.

Die Texte der Krankenölung - auch der katholischen Kirche - sind eindeutig auf die Heilung gerichtet, auf das Aufrichten des Kranken aus der Macht der Krankheit. Da ist von einer »letzten Ölung« keine Rede. Aber dieses Bewusstsein ist so tief vertreten, und auch bei manchen orthodoxen Christen, dass man eine Äußerung hören kann: ach, es ist noch nicht so weit, wir brauchen die Krankenölung noch nicht.

Nicht nur in der reformatorischen und in der katholischen Kirche, sondern auch bei uns hat die Krankenölung in diesen Jahrzehnten wieder zugenommen. Und zwar wird die Krankenölung nicht nur an dem Kranken, sondern auch an dem sogenannten Gesunden ausgeführt. Mindestens einmal im Jahr kommt die Gemeinde zur Krankenölung zusammen, möglichst die Gemeinden der Diözese; bei uns in Frankfurt. Der Bischof lädt alle Priester ein, es sind Hunderte von Gläubigen da, dort wird die Krankenölung an diesen vielen Menschen vollzogen, weil wir, solange wir in dieser Welt wandern, niemals die wirklich Ge-sunden sind, weil wir dieser Vergebung der Sünden und dieser Heilung von den noch unsichtbaren Krankheiten in uns, bedürfen, Wir vertrauen uns ganz und gar Gott an, damit Er uns aufrichtet, dass die Sünden, die verborgenen Sünden in uns, durch die Krankenölung vergeben werden. Das ist der eigentliche Inhalt und gleichzeitig auch der Ermöglichungsgrund des Zeichens der körperlichen Heilung, wenn es Gott gefällt, sie uns zu schenken.

Wir lernen in der Krankenölung einen ganz neuen Umgang mit der Sünde. Das, was wir in den vielfältigen Handlungen der Kirche als Sünde erkennen, ist nicht nur, was wir aussprechen und sagen, sondern auch das, was wir tun. Bei der Ölung des Kranken wird in einem Gebet auch an die Sünderin erinnert, die das Öl über die Füße des Herrn Jesus Christus ausgießt. Das Entscheidende an diesem Ereignis - von dem der Herr sagt, dass es uns berichtet werden wird bis in alle Ewigkeit (Matth. 26,13) - ; das Entscheidende an diesem Ereignis ist, dass diese Frau durch eine Handlung aus dem Innersten ihres Wesens sich Christus zuwendet, was sie mit Worten nicht kann. So auch hier in der Krankenölung. Ich habe oft Krankenölungen mit Geisteskranken gefeiert; und die Geisteskrankheit gehört zu den immer noch geheimnisvollsten Dingen. Schrecklich, viel schrecklicher in meinen Augen als alle anderen Krankheiten. Alle Versuche, die Geisteskrankheit zu erklären, große Untersuchungsreihen der Italiener, irgendwelche Stoffe im menschlichen Körper zu finden, die die Krankheit verursachen, hatten kein Ergebnis.

Es gibt Zusammenhänge zwischen körperlichen, chemischen Vorgängen und Erlebnissen. Viele kennen das von der Wirkung des Alkohols. Aber die Trunkenheit ist noch im Rahmen unserer Erfahrungen verständlich, weniger das Entzugsdelir; Tage, wochenlang hat der Mensch große Mengen Alkohol getrunken. Plötzlich wird ihm aller Alkohol entzogen. Nach Stunden oder Tagen wird der frühere Trinker überwältigt von Erlebnissen, Bildern, Geräuschen, Gerüchen, die ihm wirklich vorkommen, oft bedrohend; aber außer ihm kann niemand diese Eindrücke miterleben; es sind Sinnestäuschungen, die über-mächtig den Betroffenen zu sinnlosen oft verhängnisvollen Handlungen zwingen. Durch den Entzug des Alkohols treten Halluzinationen, übermächtige Sinnestäuschungen auf. Diese krankhaft-verhängnisvollen Erlebnisse stehen in einem körperlich chemischen Zusammenhang zu der Einwirkung von Alkohol. Mit dem langsamen Abklingen der vielschichtigen Wirkungen und Nachwirkungen des Alkohols verschwinden diese Sinnestäuschungen, Halluzinationen, die aus der Chemie und den Abläufen im menschlichen Körper verständlich sind.

Das geht nicht bei der Depression oder bei der Schizophrenie, bei den klassischen Geisteskrankheiten. Hier stehen wir immer noch vor einem völligen Rätsel, obwohl wir gelernt haben, großartig gelernt haben, den Geistes-kranken nicht mehr zu fesseln, sondern ihm zu helfen mit dämpfenden Arzneimitteln ihn so ruhig zu stellen, dass er wieder sozial eingeordnet werden kann. Von Heilung keine Rede, aber eine Möglichkeit, die schrecklichen Gefängniskrankenhäuser für Geisteskranke, wo sie an den Wänden angekettet waren, überflüssig zu machen. Auch die großen Versuche, die Geisteskrankheit aus der Umwelt zu erklären, vor allen Dingen der Schweizer-Schule, hat keinen Erfolg gehabt. Natürlich gibt es die Neurose, es gibt eine krankhafte Verarbeitung von Erlebnissen, die zu krankhaften Reaktionen und Erlebnissen führen. Die kann man heilen durch Psychotherapie, Psychoanalyse oder ähnliche Dinge.

Aber die aus der unbegreiflichen Tiefe ausbrechende Depression und die Schizophrenie, d.h. die jetzt aus nicht mehr erklärbaren Gründen auftauchenden Bilder, Gefühle, Gerüche, die den Menschen überwältigen, die ihm viel wirklicher und realer vorkommen als das, was wir mit unseren Sinnen sehen, haben keinen erkennbaren, materiellen, nachweisbaren Grund. Und je länger ich mit Geisteskranken zu tun habe, um so mehr bin ich der vielleicht kindlichen Überzeugung, dass das wirklich der Teufel selbst ist.

Ich habe erlebt, dass nach der Krankenölung der Kranke aus seiner Depression, aus seinen Halluzinationen, aus seinen krankhaften Bildern wieder aufwachte. Ich erinnere einen nicht orthodoxen jungen Mann, der immer, wenn ich in Ochsenzoll (Psychiatrie) Besuche machte, zu mir kam und sagte: ach Herr Pfarrer, können wir nicht in die Kirche gehen und die Krankenölung feiern. Wenn wir in die Kirche in Ochsenzoll gingen, stellten wir uns vor den Altar, und wir haben die Krankenölung gefeiert. Er war immer ganz glücklich und sagte: dann bin ich wieder für Wochen und Monate fröhlich. So ist es hier deutlich, wie uns die Krankenölung aus der Macht und der Gewalt des Teufels befreit.

Nachdem nun siebenmal der Kranke gesalbt worden ist, nimmt ein Priester oder der Bischof das Evangelium, schlägt das Evangelium auf und legt es so aufgeschlagen auf das Haupt des Kranken und betet:
»Heiliger König, Barmherziger und Gnadenvoller, Herr Jesus Christus, Du Sohn und Wort des lebendigen Gottes, der Du nicht willst den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe; nicht ich lege meine sündige Hand auf das Haupt des in Sünden zu Dir Kommenden und durch uns von Dir Vergebung der Sünden Erbittenden, sondern Deine machtvolle und kräftige Hand in diesem heiligen Evangelium, welches meine Mitbrüder auf das Haupt dieses Deines Kindes . . . halten. Und ich bete mit allen zu Deiner mitleidigen und des Bösen nicht gedenkenden Menschenliebe:
Gott, unser Erlöser, der Du durch Deinen Propheten Nathan dem büßenden David die Vergebung der Sünden geschenkt und das Bußgebet des Manasse angenommen hast, Du selbst nimm auch Dein Kind an, das seine Sünden bereut, mit Deiner gewohnten Menschenliebe, nachsehend alle seine Übertretungen. Denn Du bist es, unser Gott, der uns befohlen hat, siebzigmal siebenmal zu vergeben denen, die in Sünde fallen.

Denn so groß Deine Größe ist, so groß ist auch Dein Erbarmen. Und Dir gebühret alle Herrlichkeit, Ehre und Anbetung, jetzt und immerdar und in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Amen.“