Führung in der Nacht der Kirchen: „Es werde Licht!“
P. Nikolai WolperHamburg, 18.9.2010Das Motto dieser Nacht der Kirchen ist zweifellos gut biblisch und verweist auf den Anfang der Schöpfung, deren erster Tag beginnt mit dem göttlichen Wort: „Es werde Licht!“ Und jeder Kundige ergänzt sofort den entscheidenden Nachsatz: „Und es ward Licht.“ (Gen 1,3) Aber als Motto klingt das Bibelzitat doch eher programmatisch, als Impuls zur Erwartung von Zukünftigem, als etwas, das in dieser säkularisierten Welt erst noch zu verwirklichen ist. Es hat einen Unterton von Aktionismus.
Orthodoxe würden wohl ein anderes Lichtmotto wählen und sich dabei auf ihre Vertrautheit mit der Göttlichen Liturgie, der Eucharistiefeier, besinnen. Gegen Ende, nach der hl. Kommunion, singt der Chor, stellvertretend für die Gemeinde, diesen Dank- und Lobpreis: „Wir haben das wahre Licht geschaut, den himmlischen Geist empfangen, den wahren Glauben gefunden. Wir beten an die unteilbare Dreieinheit, denn sie hat uns erlöst.“
Das ist nicht Programm, sondern hier wird eine Erfahrung ausgedrückt: Das Licht muss nicht erst werden, sondern es ist schon da, in diese Welt gekommen durch die Menschwerdung des Gottessohnes, und es wird die Welt niemals mehr verlassen. „Wir haben das wahre Licht geschaut.“ Die Erfahrung der ständigen Gegenwart des göttlichen Lichts in dieser oft so dunkel erscheinenden Welt ist geradezu das Lebensprinzip der Orthodoxie. Und der Raum für diese das ganze Leben prägende Erfahrung ist die Kirche – als geistige Wirklichkeit, aber auch als materiell erlebbares Gebäude, schon beim Betreten und gesteigert durch den feierlichen, glanzvollen Gottesdienst in der Gemeinschaft der Gläubigen.
Es mag paradox klingen (aber was ist bei den Annäherung an Gott aus der Perspektive des weltlichen Verstandes nicht paradox?): Das göttliche Licht ist in der Liturgie auch zu hören. (Synästhetiker wie z.B. manche Komponisten können ja auch Töne farbig „sehen“.) Vielleicht erscheinen manchem westlich geprägten Besucher die russisch-orthodoxen Gesänge selbst zu Ostern beinahe traurig-melancholisch, jedenfalls eher langsam und von verhaltener Feierlichkeit, ganz anders als der ansteckende Jubel z.B. in den Freikirchen, die ständig lächelnd und optimistisch gestimmt begeistert ihre Freude über die Begegnung mit Jesus bezeugen. Auch Orthodoxe sind durchdrungen von der Freude über die erlösende Begegnung mit Christus. Aber sie sind „Realisten“, die sich nicht die geringste Illusion machen über den Zustand der Welt, die geprägt ist von Dunkel, Sünde und Gottesferne. Ihre ganze Erfahrung mit Gott besteht darin, dass durch alle diese Dunkelheit das wahre Licht hindurch scheint und das Herz erleuchtet. Die Schöpfung ist durchsichtig für dieses Licht. Und das betrifft nicht nur Geist und Seele, sondern auch die Materie, die gar nicht voneinander zu trennen, sondern als Einheit zur Verklärung berufen sind.
Das Medium für diese innige Erfahrung der Verklärung der Welt sind die Ikonen, die heiligen Bilder, die ja geradezu das Kennzeichen der Orthodoxie bilden und doch aus der Distanz der Beobachter und Kunsthistoriker so schwer zu verstehen sind. Das gilt besonders für solche Ikonen, die durch den langen Gebrauch ganz dunkel, fast schwarz geworden sind, so dass kaum noch etwas zu erkennen ist. Aber auch in ihnen erfahren die Gläubigen das hindurch scheinende göttliche Licht. Es geht eben nicht um physikalische Phänomene. Deshalb können Orthodoxe in einem durch noch so kunstvolle Installationen beleuchteten, aber bilderfreien Kirchenraum nicht heimisch werden. Sie vermissen die tiefe Erfahrung der Durchsichtigkeit der Materie, die mit bloßer Beleuchtung – und sei es durch große Fenster – nicht zu verwirklichen ist. Die Lichtwelt der Ikonen entfaltet sich aus den Bildern selbst. Es gibt keine lokalisierbare Lichtquelle, weder eine fiktive Beleuchtung von außen noch innerhalb des Bildes – etwa die Sonne oder eine Gestalt, von der das Licht ausstrahlt wie auf manchen Weihnachtsgemälden das leuchtende Kind, das seine Umgebung erhellt. Schatten, die auf eine Lichtrichtung schließen lassen, sind nicht zu identifizieren. Die ganze Bildfläche, nicht nur der goldene Heiligenschein, scheint zu strahlen, wie verhalten – etwa auf dunklen Ikonen – auch immer.
Dabei ist für die christliche Aussage des Bildes zu bedenken, dass alle Ikonen Personen darstellen. Landschaften, Tiere, Pflanzen oder Gebäude bilden immer nur den Hintergrund für den eigentlichen Bildinhalt, der personal ist. Eine bloße Naturfrömmigkeit, die Gott in der Weite des Meeres, der Erhabenheit der Berge, den Farben des Himmels oder der Schönheit von Blumen und Tieren zu erfahren meint, ist auch religiös, bleibt aber zu oberflächlich, wenn sie nicht einmündet in die Begegnung mit dem Dreipersonalen Gott, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Er hat Sich offenbart in der konkreten Gestalt eines Menschen in all seiner Schwäche und Verletzlichkeit bis zum schrecklichen Tod am Kreuz. In jeder Heiligenikone begegnen wir einem Menschen, der durch das göttliche Licht verklärt ist nach dem Bild Gottes, als das jeder Mensch geschaffen wurde. Der Orthodoxe sieht in der Ikone wie im Spiegel sich selbst im Licht der Verheißung seiner eigenen Erlösung; er schaut leibhaftig seine eigene Berufung. Deshalb ist für orthodoxes Empfinden die angemessene Gebetshaltung nicht das bequem-entspannte Sitzen, sondern das durchaus anstrengende, doch in aller gebotenen Demut selbstbewusste Stehen vor Gott und Seinen Heiligen in Augenhöhe mit den Ikonen, durch die Christus und die Heiligen uns anschauen.
Das Urereignis für diese Wiederherstellung der verdunkelten Schöpfung in ihrer ursprünglich von Gott gemeinten lichtvollen Herrlichkeit und Schönheit (mit der die Hl. Schrift beginnt und worauf sich das offizielle Motto dieser Nacht der Kirchen beruft) ist die Verklärung Christi auf dem Berg Tabor (Mt 17,1-9). Im orthodoxen Kirchenjahr wird dieses Urereignisses vergegenwärtigt an einem der höchsten und populärsten Feste (Metamorphosis/Verklärung; 6. August). Es ist geradezu das Fest des göttlichen Lichtes, das in der Welt erschienen ist. Einen Schimmer von dieser Herrlichkeit der wieder hergestellten Schöpfung im Reich Gottes vermittelt jede Feier der Göttlichen Liturgie, die eine Dank- und Freudenfeier ist: „Wie haben das wahre Licht geschaut...“
Die Wiedervereinigung der getrennten Geschöpfe mit dem Dreieinen Schöpfer ist der Sinn des ganzen Lebens, weshalb die Heiligen nicht als Vorbilder für Moral oder Glaubenszuversicht, sondern als Zeugen der Wirklichkeit dieser Verheißung so innig verehrt werden. Die Orthodoxen leben selbst im dunkelsten Alltag in der Gegenwart ihrer Ikonen - zuhause, auf Reisen, im Auto; vor allem aber im gebauten Kirchenraum, in dem die Gemeinde sich zum Lobpreis des Schöpfers versammelt. Nicht das einsame Gebet im stillen Kämmerlein ist die Lebensform des orthodoxen Christentums, sondern die Gemeinschaft der ganzen Kirche über alle Grenzen von Raum und Zeit und damit auch des Todes hinweg. Die Kirche ist das schon verwirklichte Reich Gottes, in dem sich die ganze Schöpfung, die sichtbare und die unsichtbare, um den Dreieinen Gott versammelt. Dieser Aufstieg zu Gott wird im orthodoxen Kirchenraum mit seiner besonderen Architektur und seinem Bildprogramm erfahrbar.
Auch wenn manche Kirchen nur kleine Fenster besitzen und vielleicht den Charakter einer dämmrigen Höhle vermitteln, sind sie für die Erfahrung der Gläubigen doch Lichtbauten, deren Wände durchsichtig sind für das Licht Gottes – selbst wenn die Fresken unter einer dicken Schicht dunkler Patina nur noch zu erahnen sind. (So gesehen bedürfte unsere Kirche eigentlich gar nicht der sehr aufwändigen Restaurierung der verschmutzten Fresken; aber „schöner“ ist der Raumeindruck natürlich in der vollen Klarheit der ursprünglichen Farben und Formen.)
Der typische Kreuzkuppelbau wird gegliedert durch zwei Hauptachsen, eine horizontale vom Westportal zum Altarraum im Osten mit seiner Ikonostase (Bilderwand) und eine vertikale, die vom Boden in die Kuppel über dem Kirchenraum weist. Mit beiden Beinen auf der Erde stehend, blicken die Gläubigen nach oben in den Himmel, wo unter dem Scheitel der Kuppel das gleiche Bild Christi, des Allherrschers und -erhalters (Pantokrator), erscheint wie rechts neben der Ikonostasentür. Wie der Schlussstein die ganze Kuppelarchitektur zusammenhält, so hält der Schöpfer das Weltall in Seinen segnenden Händen. Unterhalb umgibt dieses Zentrum des Kosmos die geistige Schöpfung, vertreten durch die Erzengel, die flammenden Serafim und die Engel, die, in liturgische Gewänder gekleidet, die Himmlische Liturgie vollziehen und die eucharistischen Gaben in einer Prozession zum Altartisch im Osten der Kuppel tragen wie die menschlichen Zelebranten beim Großen Einzug im Gottesdienst unten auf der Erde. Empor geleitet wird der Blick der Gläubigen zu dieser Schau des Lobpreises der Schöpfung über die Wandfresken mit den Hauptstationen des Erlösungswerkes, das der Gottessohn mit Seiner Menschwerdung vollbracht hat: im Norden die Geburt und die Taufe im Jordan (wo Er mit dem Wasser die ganze Schöpfung weihte, was die Kirche am Fest der Theophanien, 6.1., nachvollzieht), im Süden die Kreuzigung und der Abstieg in das Totenreich, um als Auferstandener stellvertretend für die Menschheit Adam und Eva aus den Gräbern zu Sich emporzuziehen. Im Osten über der Ikonostase ist das Pfingstereignis, die Herabkunft des Hl. Geistes auf die zwölf Apostel, dargestellt und im Westen die Tischgemeinschaft der drei göttlichen Boten, die im Hain Mamre die Gastfreundschaft von Abraham und Sarah erfuhren und so die Offenbarung der Hl. Dreieinigkeit vorabbildeten (Gen 18). Ergänzt werden diese Heilsereignisse an den verfügbaren Flächen durch einige besonders verehrte Heilige des Alten und Neuen Bundes (Propheten, Evangelisten, Fürsten, Asketen).
Die Süd-Nord-Achse des Kreuzkuppelbaus ist weniger deutlich sichtbar und bleibt auch der horizontal-vertikal orientierten Ausrichtung untergeordnet. Das Südschiff ist ganz dem Leidensweg des Herrn gewidmet mit den Szenen des Einzugs in Jerusalem (Palmsonntag) und dem einsamen Gebet auf dem Ölberg, aber auch der Auferweckung des Lazarus als Ausblick auf Ostern (Samstag vor Palmsonntag). Vor dem Kreuz stellen die Gläubigen Kerzen für die Verstorbenen auf, und auch die Totengebete (Panichida) werden hier durch den Priester verrichtet.
Das Nordschiff verweist auf die nationale Identität der russischen Kirche, erscheinen hier doch neben dem großen Fresko der Taufe Russlands auch zahlreiche Bilder russischer Heiliger, so auch des Kirchenpatrons, des hl. Prokop von Lübeck und Ustjug.
Das öffentliche Zentrum der Kirche wird gebildet durch den Schnittpunkt aller Achsen. In dieser Mitte des Gemeinderaumes unter dem Kronleuchter finden viele Gottesdienste statt: Fürbitt-Andachten z.B. für Kranke oder Reisende oder zum Schulbeginn, Trauungen und Toten-Gottesdienste, bei denen der Leichnam inmitten der Gemeinde wie zu Lebzeiten in derselben Ausrichtung auf den Altarraum hin, also mit dem Blick zum „Licht aus dem Osten“, offen aufgebahrt wird. Er bleibt Glied der Gemeinde, die den Schöpfer verherrlicht. An Feiertagen liegt hier, umgeben von Kerzen und Blumen, die Festikone aus; und beim Morgengottesdienst für den Sonntag (gehalten schon am Vorabend) verehren nach der Evangelien-Lesung hier die Gläubigen feierlich als Wortikone das kostbare Evangelienbuch, das der Priester vom Altartisch mitten in die Versammlung trägt.Auf mehreren Pulten und an den unteren Wänden verehren die Gläubigen verschiedene Ikonen von besonders beliebten Heiligen.
In der Apsis über dem Altarraum begegnet uns, kniefällig verehrt von Engeln, die Gottesmutter Maria, „ehrwürdiger als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Serafim“ (Gesang), denn sie wurde gewürdigt an der Menschwerdung Gottes mitzuwirken und sich ganz hinzugeben als Gefäß für die Liebe Christi zu Seiner Schöpfung. Deshalb steht sie nicht etwa wie eine „Göttin“ vor uns, sondern als Verkörperung des ganzen Leibes Christi, der ganzen betenden Kirche, d.h., unser aller. Und unter ihren betend und sich mit ihrem ganzen Sein öffnenden ausgebreiteten Armen steht, meistens den leiblichen Blicken der Gläubigen verborgen, das Allerheiligste der Kirche, der Altartisch, in dem das Geheimnis des Grabes und der Auferstehung Christi gegenwärtig ist, nicht nur im Tabernakel, der die heiligen Gaben für die Krankenkommunion birgt, sondern auch als Tisch für das immerwährende Selbstopfer Christi im Hl. Abendmahl. Wie die beiden eucharistischen Gestalten Brot und Wein den Blicken der Gemeinde niemals preisgegeben, sondern mit Tüchern verhüllt werden, so bleibt ihnen auch der Altarraum verborgen; nur die Geistlichen und Altardiener haben Zutritt zu diesem heiligen Raum. Christliche Existenz verwirklicht sich an der Grenze zwischen Erde und Himmel, zwischen der Dunkelheit der Welt und dem Licht Gottes. Im Rhythmus der geschlossenen und in bestimmten Phasen des Gottesdienstes geöffneten Türen der Ikonostase wird dieses Leben an der Grenze erfahrbar. Im Ausnahmezustand der Osterwoche bleiben alle Altartüren weit geöffnet, überstrahlt doch das verklärende Licht der Auferstehung alle Dunkelheit der Welt, so dass die Gläubigen tatsächlich „das wahre Licht schauen“, wie sie es am Ende jeder Göttlichen Liturgie dankbar bekennen. Weit entfernt von dem geläufigen Vorteil, die Bilderwand schließe die Laien vom privilegierten Raum der Kleriker aus und verbanne sie zu einer „minderwertigen“ Teilnahme am Gottesdienst, stellt sie für die im ganzen orthodoxen Lebensvollzug „geschulten“ Augen gerade eine Verbindung zwischen Himmel und Erde dar, sind die Ikonen doch Fenster zur Ewigkeit, durch die uns Christus und die Heiligen anschauen und einladen in das Reich Gottes. Ein entblößter Altartisch ohne Geheimnis befremdet die Gläubigen eher.
Aber dem Dunkel der Welt werden wir vor unserer endgültigen Begegnung mit Christus in unserer Todesstunde nicht entrinnen. Diese Einsicht wird bei aller Festfreude im Gottesdienst im durchsichtigen Lichtbau der Kirche nicht geleugnet. Deshalb fällt der letzte Blick der Gläubigen beim Verlassen der Kirche vor dem Wiedereintritt in die Mühen des Alltags auf die tröstliche Szene des Entschlafens der Gottesmutter über dem Westportal (Hochfest am 15.8.) im Westschiff, das dem Leben der Gottesmutter gewidmet ist: Inmitten der herbeigeeilten Versammlung der Jünger und hinter dem Sterbebett Marias steht ihr auferstandener Sohn, Jesus Christus, und zeigt uns auf dem Arm als Kindgestalt, ins Leichentuch gewickelt, seine Mutter. Er kehrt damit das so vertraute Bild der Gottesgebärerin als „Hodegitria“, als Wegweiserin, die uns auf dem Arm den kindlichen Gottmenschen zeigt, um und bestärkt uns beim Verlassen des Erfahrungsraums der Kirche in der Gewissheit, dass Christus uns in allen Dunkelheiten unseres Lebens nahe ist und als Lichtgestalt mit offenen Armen erwartet.
Zuvor, vor dem Schlusssegen, schreitet der Priester die Altarstufen hinab und spricht, hinaufblickend zum „Licht aus dem Osten“, das Sendegebet für die Gläubigen, die „das wahre Licht gesehen haben“:
„Der Du segnest, die Dich segnen, Herr, und heiligst, die auf Dich vertrauen, rette Dein Volk und segne Dein Erbe; erhalte die Fülle Deiner Kirche, heilige alle, die die Schönheit Deines Hauses lieben. Verherrliche sie dafür durch Deine Macht, verlasse uns nicht, die wir auf Dich hoffen. Schenke den Frieden deiner Welt, Deinen Kirchen, den Priestern und all Deinem Volk. Denn jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben und steigt herab von Dir, dem Vater der Lichter, und Dir senden wir Verherrlichung, Dank und Anbetung empor, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.“